Meerblick

Warum wir eine themenoffene Frauen*beratungsstelle sind

2021

Viele Beratungsstellen haben sich spezialisiert auf Schwerpunkte, z.B. Erziehung, sexualisierte Gewalt, Schwangerschaft oder anderes. Die TuBF wird für ihre Sachkenntnis und Erfahrung zu den Themen geschlechtsspezifischer Gewalt vom Land NRW gefördert. Als Frauen*beratungsstelle bietet die TuBF jedoch für alle Themen, die ein Frauen* – Leben betreffen, Beratung und Therapie an. Warum?

Die TuBF-Frauenberatung 1 versteht sich als psycho-soziale Anlaufstelle für Frauen* in Bonn und Umgebung und bietet psychologische Beratung, Therapie und berufliches Coaching an.
Wir gehören mit 52 anderen Frauen*beratungsstellen dem „Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW e.V.“ an und werden von der Stadt Bonn und dem Land NRW 2 gefördert. In den Richtlinien des Landes sind wir als „Allgemeine Frauenberatungsstelle“ 3 definiert. Innerhalb dieser Kategorie der „Allgemeine Frauenberatungsstellen“ gibt es Spezialisierungen.

Wir TuBF-Kolleginnen sind in unser Arbeit als themenoffene Frauenberatung spezialisiert.
Wir arbeiten mit Frauen, die in Krisen sind, die psychologische Beratung oder längerfristige therapeutische Unterstützung anfragen und eigenmotiviert sind.

Wir verstehen unsere Arbeit innerhalb des Dachverbandes als eine Säule neben der Säule „Interventionsstellenarbeit“ und der Säule „Arbeit zu sexualisierter Gewalt“. Oder als einen Raum neben (den beiden) anderen Räumen unter dem Dach des Dachverbandes. Wobei in manchen Städten alle drei Säulen unter einem Verein vereint sind, in anderen, wie in Bonn sind das mehrere getrennte Vereine, die kooperieren.

Themenoffen meint, dass unsere Arbeit, d.h. Zugang, öffentliche Präsenz, spezifisches therapeutisches Angebot sowie interne Struktur, über das Thema der (akuten) Gewalt hinausreicht. Dieses Spezifikum der themenoffen arbeitenden Beratungsstelle möchten wir hier differenziert beschreiben:

1. Frauen*spezifische Reflexion von Therapien waren unsere Anfänge

Wir haben 1982 eine Frauenberatungsstelle, aufgebaut, die Therapie und Beratung von und für Frauen anbietet. Der herkömmlichen, geschlechtsneutralen bis frauenabwertenden Psychotherapie wollten wir ein professionelles, frauenbezogen reflektiertes Angebot gegenüber stellen. Unsere Auseinandersetzung mit weiblichen* Lebens- und Arbeitswelten war die Grundlage, um therapeutische Methoden und Theorieansätze sorgfältig auf ihre Eignung zur Therapie mit Frauen* zu überprüfen und geschlechtersensibel weiterzuentwickeln.

Diese sensibilisierte und parteilich reflektierte Arbeit machte das sichtbar, was in konventionellen Therapien oft nicht erfragt und gesehen wurde. Auch geschlechtsspezifische Gewalt (s. Anmerkung 1) wurde deutlicher wahrgenommen und konnte an das therapeutische und politische Tageslicht rücken. Nicht nur geschlechtsspezifische Gewalt, sondern vielfältige Einschränkungen und Gewalt -Konstellationen in Herkunftsfamilien, Schulen, Glaubensgemeinschaften, Peergroups und Community’s waren und sind Themen, die in Beratung und Therapie offenkundig werden.

2. Themenoffene Therapien und Beratung fördern individuelle und gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten

So ist in der praktischen Arbeit deutlich, dass hinter allen Anfragen nach Therapie und Beratung gewaltvolle Einschränkungen oder Verletzungen liegen. Kein Mensch wächst vollkommen ungestört auf. Jedes Leben ist von anderen Personen abhängig und insofern verletzbar. In Sicherheit, Verbundenheit und Freundlichkeit eigene Lebensenergien, Kompetenzen, Ausdrucks- und Erlebensvielfalt zu entwickeln ist manchmal gar nicht nicht möglich – und geschieht nicht ohne Brüche und Behinderungen.

Menschen verfügen über die Möglichkeiten, Leiderfahrungen zu überleben und zu verarbeiten. Aber je nach Zeitpunkt, Dauer und Intensität einschränkender Lebenserfahrungen und wenn darüber hinaus die aktuellen Lebensbedingungen prekär und erneut oder noch immer gewaltvoll und einschränkend sind, können sich Verarbeitungskapazitäten des Individuums erschöpfen und professionelle Unterstützung wird hilfreich.

Die Hintergründe der Belastungen oder Einschränkungen sind nicht immer geschlechtsspezifisch motiviert. Aber: Die Varianz der Verarbeitungsmuster, der individuelle und gesellschaftliche Umgang damit, die juristische Resonanz darauf sind geschlechtsspezifisch strukturiert. Das professionalisierte Wissen darum machen die spezifischen Qualifikationen der autonomen (feministischen) Frauenberatungsstellen aus.

Dazu gehört insbesondere, sich mit den psychologischen und gesellschaftlichen Dynamiken des Dualismus Täter*in/Opfer (s. Anmerkung 2) zu befassen:

Der gesellschaftliche Blick auf Gewalt gegenüber Frauen* muss differenzierter sein, als einer, der Frauen* als wehrlose und unschuldige Opfer, Männer* als unverletzbare und mächtige Täter imaginiert. Dieser klassische Dualismus legitimiert Gewaltverhältnisse über Generationen hinweg auf vielfältige Weise. Innerhalb dieser Polarität ist geschlechtsspezifische Gewalt nicht zu verhindern. Dieses tief verankerte patriarchale Muster hinter sich zu lassen und weiterhin individuelle Hilfe mit gesellschaftlicher Positionierung zu verbinden, ist die Herausforderung.

Wenn wir z.B. die Dynamik häuslicher Gewalt verstehen und gleichzeitig den gesellschaftlichen Boden der Ermöglichung, Förderung und Sanktionsfreiheit dieser Gewalt ändern wollen, ist es hilfreich Folgendes zu berücksichtigen: Die besondere Dynamik dieser Gewaltverhältnisse entsteht daraus, dass wir es mit innerpsychischen Prozessen und gesellschaftlichen Dynamiken zu tun haben, dass es nicht das eine oder das andere ist, sondern sich hier beides extrem verdichtet. Häusliche Gewalt sind Beziehungstaten, die sich jedoch entlang patriarchaler Prägungen ausdrücken und ermöglichen. Jochen Peichl hat in seinem Papier „Destruktive Paarbeziehungen: Wie entsteht die Spirale der Gewalt?“ gut beschrieben, an welchen Stellen der Gewaltspirale die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten liegen können. 4

Um also ungute Polarisierung nicht noch strukturell zu verfestigen, muss es themenoffene Therapie- und Beratungsangebote geben. Der Zugang zu professioneller Unterstützung darf nicht an Opfer-Definitionen oder -Erfahrungen gebunden sein.

3. Themenoffene Therapien bilden weibliche* Lebensvielfalt ab

Wir haben die Auseinandersetzung mit feministischen Bewegungen als eine Erweiterung unserer Sichtweisen auf Menschen weiblichen* Geschlechts begonnen. In Anerkennung, dass die Einheit und Klarheit einer polaren Geschlechtsdefinition nicht die Realitäten abbildet, befinden wir uns in einem Diskussionsprozess darüber, inwieweit wir die Frauen*beratungsstelle auch für Menschen öffnen möchten, die sich jenseits der binären Geschlechterordnung definieren. 5

Wir wollen Frauen* in all ihren Aspekten eines Frauenlebens berücksichtigen, sie reflektieren, uns darin weiterbilden und weiblichen Lebensverhältnissen Sichtbarkeit und Wertschätzung eröffnen. So bieten wir Offenheit, reflektiertes Wissen und Kompetenzen an für vielfältige Anliegen, mit denen Frauen* die Beratungsstelle aufsuchen.

Das können Lebenskrisen, Konflikte innerhalb von Partner*innenschaften, Lebensgemeinschaften, Familien-Systemen und Generationen sein. Das können Entscheidungen und Erfahrungen sein zu Mutterschaft und Eltern-Alltag.

Das können Themen um geschlechtliche und sexuelle Identitäten (körperliches Geschlecht, psychisches Geschlecht, soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung) sein.

Das kann der Komplex der Care-Verantwortung, der Sorgearbeiten sein.
Sorgearbeit meint die Assistenz, Pflege, Begleitung und alle damit verbundenen Tätigkeiten für Menschen, die darauf angewiesen sind: also für alle Menschen. Immer mal wieder, über längere Zeit oder konstant. Weil wir leben. Nicht nur Kinder, alte Menschen oder Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen, sondern jede* von uns ist auf andere Menschen im Zusammenleben angewiesen, auf materielle, intellektuelle oder emotionale Weise.

Das können Schwierigkeiten rund um Ausbildung / Studium / Arbeitsleben sein. Das können Diskriminierungserfahrungen, Anfeindungen und Gewalterfahrungen sein.

Das kann der Umgang sein mit Existenzängsten und (Alters-)Armut. Das kann die Konfrontation mit unterschiedlichen Freiheitsgraden in (finanziellen und emotionalen) Abhängigkeiten – familiär und beruflich – sein.

Es kann darum gehen, sich mit eigenem gewalttätigem Verhalten auseinanderzusetzen. Es kann um Krankheit, Trauer, Verlust, überwältigende Gefühle, problematisches Essverhalten, Erschöpfung, weibliche zyklusbedingte Herausforderungen und Entscheidungssituationen gehen.

Um Frauen in dieser Erfahrungsvielfalt und Differenz zu erreichen, brauchen wir einen themenoffenen Zugang zu der Beratungsstelle.

4. Themenoffene Therapien erweitern Ressourcenorientierung

Ebenso hat sich die Grundhaltung unserer therapeutischen Arbeit bei aller Vielfalt der angewandten Methoden zu einer kontext- und ressourcenorientierten, ergebnisoffenen, parteilich reflektierten, subjektorientierten (nicht individualisierenden), Selbstbestimmung und Verbundenheit fördernden Haltung entwickelt.

Das bedeutet in der therapeutischen Praxis, neben dem vordergründigen Thema auch Kontexte mit einzubeziehen und neben der Gewalterfahrung auch die Kompetenzen und Verantwortungen zu beleuchten. Das bedeutete auch, Frauen* nicht auf ein imaginäres weibliches WIR festzulegen und Erfahrungen von extremer Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht aufzuladen mit einer generalisierten Opferperspektive. Diese Grundhaltung teilen wir sicherlich mit den meisten feministischen Frauenberatungsstellen.

Ein themenoffenes Angebot lädt Frauen* ein, auch ohne Bewusstsein über geschlechtsspezifische Gewalterfahrung die Beratungsstelle nutzen zu können. Es setzt auch strukturell ein Zeichen, dass Frauen* nicht auf Opfererfahrungen reduzierbar sind. Dies kann speziell bei Gewalterfahrung eine wichtige Ressource für Frauen* sein und ein unschätzbares Präventionsmodell.

5. Themenoffene Therapien wirken gewaltpräventiv

Themenoffene Therapien in der TuBF sind in der Regel langfristige therapeutische Begleitungen.
Neben gesellschaftlichen Veränderungen braucht es oft längere therapeutische Prozesse, um gewaltfreie Lebensverhältnisse und psychische Kapazitäten entwickeln zu können. Gerade wenn es darum geht, sich aus zerstörerischen Beziehungen zu lösen , eigene Gewalterfahrungen zu verarbeiten oder von eigenen (selbst-) destruktiven Impulsen nicht überwältigt zu werden, brauchen Klient*innen Zeit und Raum – ein entwicklungsoffenes, zweckfreies, bindungssicheres, themenoffenes Therapieangebot. Damit öffnet sich eine Perspektive, die Spiralen der Gewalt innerhalb von Beziehungen, Gemeinschaften und Generationen nicht fortzuführen.

Notrufe, Interventionsstellen und explizit gewaltbezogen arbeitende Frauenberatungsstellen muss es weiterhin geben. Ihre Expertise ist unerlässlich. Daneben muss es themenoffen arbeitende Frauenberatungsstellen weiterhin geben.

Wir sehen die themenoffen arbeitenden Beratungsstellen nicht als gemeinsamer Nenner aller Frauenberatungsstellen, sondern als ein Spezifikum an, das eine eigene tragfähige Säule ausmacht. Eine Säule, die eigene Inhalte, eigene Qualifikationen und spezifische Arbeitsstrukturen mit sich bringt.
Zusammen tragen die ein starkes Haus. Vielfältig und Verbunden.

Marita Blauth, TuBF Frauenberatung Bonn. April 2021

Anmerkung 1:
Wenn wir von geschlechtsspezifischer Gewalt gegenüber Frauen sprechen, meinen wir Gewaltformen, die aus der Missachtung, Herabwürdigung, Verachtung und Abwertung von Menschen weiblichen Geschlechts heraus entstehen, oder so legitimiert werden.
Der öffentliche (und zuweilen auch der feministische Sprachgebrauch) verkürzt die geschlechtsspezifische Gewalt zunehmend auf „Gewalt gegen Frauen“. Darin liegt die Gefahr, dass damit das Politische daran entnannt und auf moralisch/rechtliche Kontexte reduziert wird, die anschlussfähig sind an traditionelle Menschenbilder, die Frauen* eine größere Unschuld und Verletzlichkeit zuschreibt und Männer* eher als unverletzbare und beschützende Helden oder potenzielle Täter imaginiert.

Anmerkung 2:
Christina Thürmer-Rohr: „Ein nicht auflösbares Dilemma liegt in der Qual des einerseits – anderseits, diesem Amalgam von Aufwertung einerseits und Opfersein andererseits. Das Wort „Opfer“ wurde in der Frauenbewegung einerseits unentbehrlich, um die Schäden erfahrener Gewalt unmissverständlich zu benennen, andererseits suggeriert es die Wehrlosigkeit der Betroffenen und kategorisiert sie als Menschen, die ihre Souveränität und Handlungsfähigkeit verloren haben. Einerseits ist es Ziel feministischer Politik, Frauen zu ermutigen, ihr Leben in eigene Regie zu nehmen, andererseits stehen die Auswirkungen von Gewalterfahrungen diesem Ziel entgegen. Einerseits kann die Gewaltgeschichte zur Wahrnehmung der Frauen als ihr Opfer zwingen, andererseits entsteht mit dieser Wahrnehmung die Gefahr, dass solche Erfahrungen die Gesamtperson beherrschen, dass sie wesensbildend werden und in Opferidentitäten münden. Einerseits bewirkt diese Opfermentalität, dass Gewalt als eine äußere Macht wahrgenommen wird, der Frauen wie fremd gegenüberstehen, andererseits wird damit den Tätern eine Macht zugeschrieben, die das gesamte weitere Leben der Opfer gefährdet und verdirbt und so die Täterseite stärkt. Einerseits gibt es endlose Belege für die Vergeschlechtlichung der Gewalt, andererseits wird mit dieser Vorannahme vernachlässigt, dass auch Frauen Gewalt ausüben und sie unterstützen können.“
(Braunschweig. 8.3.2012 „Standortvorteil Feminismus“)

„Gewalt ist keine Steigerung von Macht. Der Täter übt nicht Macht aus, sondern Gewalt. Das Opfer ist nicht Opfer von Macht, sondern von Gewalt.“
„Wenn man von Macht spricht, ist immer ein Verhältnis mitgemeint, ein Ensemble von Agierenden und Mitagierenden, die direkt oder indirekt gemeinsam handeln und aufeinander angewiesen sind.“
„Das Wort Macht hat in der Beschreibung sexueller Gewalt nichts zu suchen, denn Macht spricht ein Verhältnis an, das im Fall der Vergewaltigung gerade restlos aufgekündigt ist. Der Gewalttäter hat, weil er Gewalt ausübt, jede Macht verloren.“
(aus dem Kapitel „Unrechtsbewusstsein und sexuelle Gewalt. Zur Ambivalenz der Opferrolle“ im sehr lesenswerten letzten Buch von Christina Thürmer-Rohr: Fremdheiten und Freundschaften S. 171)


1 1977 wurde in Köln der erste ”Feministische Frauentherapiekongress” mit über 200 Frauen ausgerichtet. Die TuBF wurde 1982 gegründet. Trägerverein: TuBF e.V.
2 Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung in Nordrhein-Westfalen
3 In der Landesförderung sind drei Arten von Frauenberatungsstellen:
a. Allgemeine Frauenberatungsstellen, b. Spezialisierte Beratungsstellen für von Menschenhandel betroffenen Mädchen und Frauen, c. Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt.
4 https://maenner-contra-gewalt.de/wp-content/uploads/2017/11/fachartikel-BP-27-Peichel-Gewalt-in-Paarbeziehungen.pdf
5 Ältere Standortbestimmungen der TuBF: https://tubf.de/die-tubf-im-universum-der-geschlechter und https://tubf.de/geschlechterdifferenz-in-einer-frauen-beratungsstelle