Wassertropfen

Vom Tun und vom Lassen – Vortrag zum 30. TuBF Jubiläum von Marita Blauth

2012

Vor etwa 30 Jahren hätte ich bestimmt gesagt: das Tun bestimmt die Welt und jedes Lassen ist Unterlassung. Heute – 30 Jahre später – bin ich froh, dass unser Tun, als Frauen*, Therapeut*innen, Kolleg*innen, nicht seine Kraft verloren hat.
Wir schauen kritisch auf Qualität im Management neoliberaler Ausrichtung, den riskanten Ritt auf dem Zaun im feministischen Gewaltdiskurs und auf das Psycho-Soziale in der Verwertungslogik des Marktes.


Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.1

Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.” 2

1 Hannah Arendt: Vita activa, Piper 1981, S. 215 / 2 Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus, 1964.

Mit Überzeugung, Sachverstand und kollektivem Mut haben wir Frauen begleitet und psychotherapeutische Prozesse angestoßen. Wir haben ermutigt, uns berühren und anrühren lassen, manchmal mitgeweint und nicht selten zusammen gelacht. Wir haben uns beeindrucken lassen von dem Mut und der kreativen Energie, mit der Klientinnen ihren eigenen Weg aus dem Schmerz gefunden haben. Wir haben Frauen dabei unterstützt, ihre Bedürfnisse und Interessen zu  formulieren und zu vertreten – und wir haben unseren eigenen Arbeitskontext aktiv und eigenverantwortlich gestaltet. Das haben wir getan.

Wir haben auch viel gelassen. Wir haben mit jeder Entscheidung andere Möglichkeiten hinter uns gelassen. Wir lernten: Hin und wieder die Gedanken ruhen zu lassen, sich zurückzulehnen und zu würdigen, was alles erreicht wurde, die Wirkung des eigenen Tuns auch abzuwarten. Den Steinen – nicht nur den „unter dem Pflaster“ – die wir in die Wassern der Welt warfen, auch die Zeit zu lassen, Kreise zu ziehen, etwas zu bewegen, zu wirken. Die Früchte zu ernten.

Qualität im Management neoliberaler Ausrichtung

Zum sähen gehört natürlich ganz viel, unter anderem, dass wir als Team eine hohe Qualität unserer Arbeit sicherstellen wollen. Zu dem Stichwort Qualität möchte ich etwas weiter ausholen, weil uns diese Auseinandersetzung die letzten 10 Jahre begleitet hat. Als wir zu unserem 20. Jubiläum in dem kleinen Bändchen „und vorwärts, rückwärts, seitwärts, los“ die Arbeit der TuBF dokumentierten, war Qualitätsmanagement für uns noch kein Thema. Das änderte sich, als wir mit der Wirkung der neoliberalen Welthandelspolitik konfrontiert wurden. Der EU Binnenmarkt öffnete seine Grenzen, nicht nur wie bisher für Güter (und noch lange nicht für alle Menschen) sondern nun auch für öffentliche Dienstleistungen. Der Dienstleistungssektor hat die höchsten Wachstumsraten und erwirtschaftet über 60% des globalen Bruttosozialprodukts 1, das weckt Begehrlichkeiten für Privatisierungen und grenzüberschreitenden Handel. Dieser Handel mit Dienstleistungen machte Mess- und Vergleichbarkeit, vormals nur für industriell gefertigte Güter bekannt, nun auch für die Dienstleistungen nötig. Es entstand ein neuer Markt für dieses Mess- und Vergleichsinstrumentarium, das leider mit dem missverständlichen Begriff „Qualitätsmanagement“ belegt wurde. Qualitätsmanagement wurde ein problematisches, gleichwohl schwer zu kritisierendes Projekt, denn wer will nicht gerne gute Qualität für die eigene Arbeit beanspruchen. Unter anderem dadurch haben sich in den letzten Jahren die Arbeitsbedingungen im Sozial- und Gesundheitssektor rasant verändert. Und erschreckend normal sind Zertifizierungen und Qualitätsmanagement-Systeme geworden. „Psychische Belastung“ wird dann schon mal nach der Norm DIN EN ISO 10075 erfasst. Die internationale Masseinheit für Krankheit ist DALY.2 Meint: disability-adjusted life years. Dieser Wert berechnet z.B. Behinderung als verlorene Lebensjahre, multipliziert mit einem bestimmten Prozentwert je nach Höhe der Behinderung. Um so eine Maßeinheit für „Lebensqualität“ zu konstruieren wird ein negativer Behinderungsindex angesetzt, der bei hohen Werten eine niedrige Lebensqualität beschreibt: das behinderungsbereinigte Lebensjahr: Disability-Adjusted Life Year, DALY. Dieses Konzept geht darüber hinaus davon aus, dass die Belastung durch eine bestimmte Krankheit oder einen bestimmten Unfall überall auf der Welt dieselbe ist und ignoriert komplett länder- und kulturspezifische Unterschiede.

Solche irrsinnigen Messinstrumente werden entwickelt, wenn auch Gesundheitsdienstleistungen zum global berechenbaren Geschäft werden. Der „Club der Gesundheitswirtschaft“ drückt deutlich aus, worum es geht: Die Gesundheitswirtschaft soll der „größte deutsche Ökonomiezweig“ die „Leitbranche des 21. Jahrhunderts“ werden und will „Leistungen und Produkte der deutschen Gesundheitswirtschaft als Exportschlager vermarkten“ und die „Gesundheitswirtschaft in internationalen Märkten als Marke etablieren“. 

Ob nun Gesundheit oder das Soziale als Marke verkauft wird, es hat zur Folge, dass Myriaden von ControllerInnen und BeraterInnen, die oftmals von der fachlichen Arbeit keine Ahnung haben, sich eine goldene Nase damit verdienen, ihre Kosten/Nutzen Rechnungen zum unhinterfragbaren Maßstab zu erheben – und sie vermitteln dabei so etwas wie: „Jeder Widerstand ist zwecklos.“

Dr. med. Manuel Derron nennt in der Schweizerischen Ärztezeitung 2003 Erzeugnisse des modernen Managements „eine erschreckend infantil-regressive Pseudophilosophie“. Er schreibt „An der Stelle einer vernünftigen und verantwortungsbewußten Kontrolle betriebseigener Qualität hat sich eine fremdbestimmte, parasitäre Industrie gigantischen Ausmaßes dieses Bereichs bemächtigt. Beraterbüros, selbsternannte Experten und Zertifizierungsstellen sind wie Pilze aus dem Boden geschossen…Ihre Aufdringlichkeit und Impertinenz haben ihnen normative Kraft verliehen, mit der Wirkung, dass heute kaum ein Unternehmen einen öffentlichen Auftrag erhält, ohne das ebenso bedeutungslose wie exorbitant teure ISO-Zertifikat vorweisen zu können.“ Er hofft, dass sich die Erkenntnis durchsetzen wird, „dass das Qualitätsmanagement nichts Erhabeneres darstellt als einen gigantischen Verschleiß personeller, materieller, zeitlicher und finanzieller Ressourcen.“3

Es scheint, als hätte sich diese Erkenntnis nicht durchgesetzt.

Vielleicht gibt es deshalb so wenig wirksame Empörung, weil das Angebot von Rationalität und Wertmessbarkeit im sozialen Dienstleistungssektor auf ein ganz spezifisches Bedeutungsraster fällt. Beziehungs- und Dienstleistungsarbeiten gehören in großen Teilen zu traditionellen Frauenarbeiten, die – je körpernäher – desto ungesicherter, un- oder schlechtbezahlt sind. Vielleicht versprachen Qualitätsmanagementsysteme zu Anfang, die vermisste Anerkennung aufzuheben, die eigenen Leistungen in Qualitätshandbüchern, mit Siegel und Sternen zertifiziert, nach außen endlich sichtbar zu machen. Doch die Realität sieht anders aus. Vielmehr wird auch diese Arbeit zunehmend über Leiharbeit und Ein-Euro-Jobs abgewertet. Und dass Privatisierungen z.B. in Altersheimen und Krankenhäusern die Qualität verbessern würden, glaubt heute, wenn wir uns nur die Hygienebedingungen und den Personalstand ansehen, niemand mehr.4

In der TuBF „produzieren“ wir keine Gesundheit oder Heilung oder Ganzheit, sondern arbeiten an der hochsensiblen Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Wir arbeiten mit intimen, privaten Erfahrungen aus komplexen Biographien lebendiger und sich verändernder Frauen, die sich in einem mehrdimensionalen sozialen System bewegen. Diese zwischenmenschlichen Prozesse lassen sich nicht einfach erfassen wie der DIN Wert beim Papierformat.

Hannah Arendt, politische Denkerin und Philosophin, hat großen Wert auf die Unterscheidung von Herstellen und Handeln gelegt und beschreibt das auf die ihr eigene Weise so: „Anders als im Herstellen, wo der Prozess des Herstellens einen klar erkennbaren Anfang und ein ebenso klar sich abzeichnendes Ende hat, er kommt zu Ende in dem Fertigfabrikat, hat der Prozess, der durch das Handeln entsteht, eigentlich überhaupt kein Ende; jedenfalls nicht eines, das der Handelnde vorhersagen und vorausbestimmen könnte, denn der Handelnde, im Unterschied zu dem Herstellenden, ist niemals mit dem eigentlichen Ziel seines Handelns, wie der Herstellende mit dem herzustellenden Ding, allein und ungestört. Er handelt in eine Menschenwelt hinein…“5

Im Mai 2012 war ich auf dem Symposium von medico-international mit dem Titel „Das Unbehagen in der Globalisierung. Ein Austausch über Ursachen psychischen Leids und emanzipatorisches Handeln“. Eine Kollegin, Ariane Brenssell, zitierte dort eine feministische Finanzexpertin aus der Schweiz, die den Vorschlag machte, dass wir eine Messguerilla bräuchten gegen das Vermessen unseres Alltags. Ariane Brensell sagte auch: „Wir brauchen Räume der Verständigung darüber, wie Herrschaft sich im Alltag reproduziert und wie wir daran teilhaben.“6 Auf diesem Symposium waren viele FachkollegInnen, denen es am Herzen liegt, die politischen Zusammenhänge ihrer Arbeit zu reflektieren. Es wurde deutlich, dass wir öffentliche Räume brauchen, wo die Grenzen unserer therapeutischen, medizinischen oder sozialarbeiterischen Arbeit und die Fallstricke von Pathologisierung und Individualisierung besprechbar sind, jenseits von Mess- und Erfolgskriterien.

Riskanter Ritt auf dem Zaun: Das Tun und das Lassen im Gewaltdiskurs

Als Frauenberatungsstelle begegnen uns in Beratung, Coaching und Therapie die Folgen einer Verschärfung der ökonomischen und sozialen Bedingungen von Frauen. Armut macht krank, wissen wir und der Caritasverband schreibt „Wo es an Einkommen, Perspektiven und Bildung fehlt, ist Krankheit ein häufiger Begleiter.“ Er fordert in seiner Kampagne ein Gesundheitssystem, zu dem alle Menschen Zugang haben. Das können wir nur unterstützen. Richard G. Wilkinson hat beschrieben, dass unter den entwickelten Ländern nicht die reichsten den besten Gesundheitszustand aufweisen, sondern jene, in denen die Einkommensunterschiede zwischen Reich und Arm am geringsten sind.7

Die psychischen Erkrankungen scheinen zu steigen. Als überdurchschnittlich stark betroffen gelten Menschen in Sozial- Erziehungs- und Gesundheitsberufen, sowie in der Papierherstellung und im Druck. 2010 gingen fast doppelt so viele weibliche Beschäftigte aufgrund psychischer Erkrankungen in die Erwerbsminderungsrente als im Jahr 2000.8 In diesem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen wir mit unserem Angebot von psychotherapeutischer Begleitung von Frauen.

In unserer Arbeit sind wir in den meisten Fällen auch mit den Folgen von Gewalt gegenüber Frauen konfrontiert. Trotzdem legen wir Wert darauf, dass wir als Frauenberatungsstelle die Vielfalt eines Frauenlebens als unsere Profession betrachten. Das ist gar nicht so einfach, denn sowohl Spendenbereitschaft als auch öffentliche Förderung neigen dazu, wenn schon keinen Kinder- oder Krankenstatus, dann wenigstens einen Opferstatus zu brauchen. Nun haben wir es in unserer Arbeit mit – sagen wir mal – gestandenen,  meist erwachsenen Frauen zu tun. Sie haben einen hohen Leidensdruck, wenn sie zu uns kommen, bewältigen eine Lebenskrise, einen Konflikt oder eine Erkrankung nicht mehr alleine, haben sich in ihrem Seelenleben verirrt, fühlen sich ruhelos, voller Kummer oder destruktiv. Sie wollen etwas ändern und manche haben  alle Kraft zum Überleben gebraucht und möchten das Leben leise wieder lernen.  

Sie alle müssen auf Lebensbedingungen reagieren, die unmittelbare und strukturelle Gewaltpotentiale bieten. Das macht sie nicht zu Opfern, sondern zu Handelnden.

Denn: Wie gewaltförmig oder mitmenschlich die jeweiligen Lebens- und Wirtschaftsordnungen auch sein mögen, wie viele Identitätsmöglichkeiten eine Gesellschaft auch verhindert, anbietet oder erfordern mag, immer erbringen diese Frauen eine hohe kreative Leistung, einen eigenen Ort der inneren oder auch äußeren Beheimatung zu finden. Und das ist ein riskanter Ritt auf dem Zaun: Das Tun und das Lassen, eigenes Begehren und gesellschaftliche Normierungen auszubalancieren, Entscheidungen so zu treffen, dass der Mensch nicht abstürzt, dass die Seele dabei nicht verloren geht.  Es gehört zum Menschsein, dass das nicht immer bruchlos gelingen kann. Zu unserem Menschenbild gehört deshalb, Verletzlichkeit, Einschränkung, Schmerz und Scheitern für ebenso menschenwürdig zu erachten wie Freude, Erholung, Zufriedenheit und inneres Wachstum.

Zum Menschsein gehört auch, über die Potenz und das Bestreben zu verfügen, mit Mitgefühl und Freundlichkeit um ein lebbares Gemeinsames zu ringen. Ebenso wie die Potenz, Lebendiges zu zerstören, das eigene Leben auf Kosten anderer aufzubauen und bar jeden Mitgefühls oder Respekts zu sein.

Ich will damit sagen: Es gibt Gewalt, es hat sie immer gegeben und es wird sie immer geben. Vielleicht könnten wir es also getrost lassen, zu fragen, „Wie können Menschen nur so etwas tun?“, sondern sollten es einfach ernst nehmen, dass sie es tun. Und offensichtlich schützen uns unsere neuzeitlichen Zivilisationen nicht vor dem massenhaften und organisierten Ausbeuten und Töten von Menschen. Im Gegenteil, haben diese modernen Gesellschaften im letzten Jahrhundert doch neue beispielslose Formen und Stufen der Gewalt hervorgebracht.

Wie kann es nun also eine Gesellschaft schaffen, Frauen, Männer und Kinder vor Gewalt zu schützen?  Auf jeden Fall gehört mehr dazu, als ein medialer Aufschrei. Der in öffentlichen Kampagnen bezüglich sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern immer wieder gehörte Satz „Das Schweigen hat mich ein Leben lang zum Opfer gemacht“ verdreht in unguter Weise Verantwortung. Nicht das eigene Schweigen  der Betroffenen macht zum Geschädigten einer kriminellen Handlung, sondern die Gewalttat. Opfer sollte in diesem Zusammenhang ein juristischer Begriff bleiben und nicht zur Selbst- und Fremdzuschreibung von Menschen werden. Und die medienwirksame Aufforderung an Menschen, aus der Isolation herauszutreten und zu sprechen macht nur dann Sinn, wenn sichergestellt wird, dass ihnen – jenseits von Talkshows – auch zugehört wird und sie bei Bedarf auf angemessene Unterstützung zurückgreifen können. Das ist längst noch nicht gegeben.

Manchmal scheint es, als könnte jedeR NachrichtensprecherIn beurteilen, welches Ereignis im Leben eines Menschen ein Trauma ist. Auch da findet sensationsheischend Entmündigung statt. Ebenso wie wir nicht wissen können, was ein Gewalterlebnis für eine einzelne Frau bedeutet. Um zu erfahren, welche Bedeutung eine konkrete Frau einer Konfrontation mit Gewalt beimisst, muss ich sie zuerst einmal fragen  – und ihr die Deutungsmacht zugestehen. Wie andere Frauen, wie Freundinnen, wie ein Rechtssystem, wie TäterInnen oder wie TherapeutInnen einen Akt der Gewalt bewerten, mag sich davon unterscheiden. Und welchen Umgang eine Frau damit findet, wird dann davon abhängen, welchemBezugssystem und welchen Menschen sie Autorität verleihen möchte und wen sie für Wert erachtet, um ihre Sicht der Dinge zu streiten.

Als Traumatherapeutin weiß ich, dass viele Faktoren eine Rolle dabei spielen, ob überwältigende Gewalt so verarbeitet werden kann, dass Verletzungen heilen und wieder ein Zugang zu Lebensfreude und Handlungsfähigkeit gelingt. Dabei ist es nicht unerheblich, welche Bewertungen eine Gesellschaft für ihre jeweiligen Gewaltformen anbietet, wie sie den Schaden, den die Gewalt angerichtet hat, anerkennt und vielleicht wiedergutmacht und wie sie die Verantwortlichen der Gewaltausübung zur Rechenschaft zieht. Hans Keilson,9 ein deutsch-niederländischer Psychiater, hat in einer Untersuchung über die Traumatisierung von jüdischen Kindern, deren Eltern in der Shoah umgekommen waren, herausgefunden, dass die Art und Weise, wie mit den Kindern in den Jahren nach dem überwältigenden Ereignis umgegangen wurde, einen größeren Einfluss auf die Entstehung von Traumasymptomen hat als das Ereignis selbst. „Laut Keilson wird ein Trauma dabei nicht länger als einzelnes Ereignis, vielmehr als Abfolge traumatischer Sequenzen unterschiedlichen Charakters und Bedeutung interpretiert. Dabei ist für die individuellen Folgen nicht nur entscheidend, was intinial erlebt wurde, sondern was auf das traumatische Ereignis folgt. Das Trauma wird zum Produkt eines über Jahre hinweg andauernden politischen, sozialen und individuellen Prozesses, der auch die nachfolgenden Generationen noch erfassen kann.“10

Zum Beispiel Krieg: Menschen in den Krieg zu schicken, sie zu lehren, zu töten oder getötet zu werden, lässt sich auf Dauer politisch nur durchsetzen, wenn der Lohn hoch ist. Und je unsinniger und grausamer die Verteidigung unseres Lebensstandards durch kriegerische Gewalt ist, desto höher muss die symbolische Belohnung sein. Da Kriegführen immer zerstörerisch wirkt, müssen die psychischen Folgen für Rückzugs- oder Friedenszeiten abzumildern gesucht werden. „Heldenverehrungen“ und andere ideologische Überhöhungen sowie eine gesellschaftlich getragene Anerkennung des Krieges ist notwendig, um den Tod von SoldatInnen zu rechtfertigen.

Eine weitere Form der „Belohnung“ in Kriegen, die scheinbar bei der Verarbeitung von Ohnmacht und Todesangst zu helfen vermag, ist die Verfügbarkeit und Macht über andere. Das sind z.B. Erniedrigung des als Feind konstruierten Gegners. Und das sind vor allem sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Prostitution oder Vergewaltigungen, die Bestandteil jeden Krieges sind. 

Die Frage wäre, welche Heilungskomponenten stehen Frauen zur Verfügung, die Gewalt aufgrund ihres Geschlechtes erleben? Das Gewaltschutzgesetz, gerade 10 Jahre alt, ist sicherlich ein solcher Versuch, anzuerkennen, dass es häusliche Gewalt gibt und „wer schlägt muss gehen“ ist ein guter Paradigmenwechsel.

Nach Jahren einer manchmal auch voreiligen Positionierung frage ich wieder neu: Könnte es für eine Frau, die Gewalt erlebt hat, hilfreich sein, wenn UnterstüzerInnen ihr erst einmal mit der nüchternen Haltung begegnen.  Es ist, was es ist. Und zu fragen: Was kann sie jetzt tun, damit sie sich besser fühlt. Braucht sie Trost, Beistand, medizinische Versorgung oder therapeutische Begleitung, und wie kann sie sich schützen, damit es nicht wieder geschieht?

Und könnte es gleichzeitig wichtig sein, anzuerkennen, dass bestimmte Gewaltformen, die Frauen durch Männer erleben, überindividuell und systemimmanent sind, dass sie ein Ausdruck sind von erlernter oder geduldeter Frauenverachtung?

Festschreibungen auf moralische Kategorien wie unschuldige Opferidentitäten und schuldige Täterbilder sind eher geeignet, Herrschaftsverhältnisse zu konservieren. Vielmehr geht es darum, zu erkennen, wie Frauen z.B. aus einer Gewaltdynamik mit BeziehungspartnerInnen aussteigen können, wie sie sich aus Situationen befreien können, die entmündigend und terrorisierend sind.

Traditionelle Frauenarbeitsbereiche (Haus-, Pflege- und Sorgearbeit, Verantwortung für Erkrankte, für Kinder und jeden Menschen, der zeitweilig auf Unterstützung angewiesen ist) sind sehr verknüpft mit Erfahrungen von Macht und Ohnmacht. Wenn hier keine menschenwürdigen Arbeits- und  Lebensbedingungen  garantiert werden, ist die Gefahr von Gewaltspiralen, von Ausbeutung und Selbstausbeutung sehr hoch. Es  geht darum, der menscheneigenen Dynamik von Macht und Ohnmacht keinen Nährboden dafür zu bieten, dass sich Machtverhältnisse in Herrschafts- und Gewaltsysteme verkehren. Diese Aufgabe muss eine gesamtgesellschaftliche sein.

In einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Freiheitsgrade und Entfaltungsmöglichkeiten nichts mit dem Geschlecht zu tun hätten, einer Gesellschaft, die Unterschiede zwischen Menschen jenseits von Geschlechterkategorien respektierte, bräuchte es keinen Feminismus mehr. Bereits heute ist das Patriarchat in vielen Staaten insofern zu Ende, als die gesetzlich garantierte Verfügungsgewalt des Mannes über die Frau abgeschafft ist. Das ist richtig gut. Zur Durchsetzung und Sicherstellung von Herrschaftsinteressen werden unterhalb dieser rechtlichen Ebene jedoch immer wieder Kategorien benutzt oder konstruiert, die sich zum Teilen und Herrschen eignen – und werden mit Gewalt aufrechterhalten.

Und das ist auch der Grund, warum wir als Therapeutinnen in einer Frauenberatungsstelle parteilich sind. Nicht weil wir immer für Frauen Partei ergreifen. Nein. Sondern weil wir uns vertraut gemacht haben mit Gewaltstrukturen und Herrschaftsmechanismen und insbesondere da wach und aufmerksam sind, wo Frauen sich mit großer Kraft für ihre Selbstbestimmung, für die Anerkennung von weiblicher Autorität und Solidarität einsetzen. Parteilichkeit bedeutet eine bewusste Unterstützung von Autonomie jenseits von Macht- oder Ohnmachtsverführungen.

Ein riesiger Fortschritt scheint zu sein, dass 2011 in Straßburg ein „Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ verabschiedet wurde.

Dieses Übereinkommen „findet in Friedenszeiten und in Situationen bewaffneter Konflikte Anwendung.“ Da heißt es in Artikel 3: „Im Sinne dieses Übereinkommens a. wird der Begriff ‚Gewalt gegen Frauen’ als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben.“11

Das klingt ziemlich umfassend (besonders die Präambel ist aufschlussreich) und liest sich wie ein Erfolg der vielen Frauen, die sich mit dem Thema Gewalt gegenüber Frauen beschäftigen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses phänomenale EU-Papier nicht nur zum weiteren Anheizen des lukrativen Dienstleistungsmarktes gedacht ist.12 In dem Papier steht auch ziemlich viel über die Notwendigkeit von Datenerhebungen. Die Vertragsparteien sollen diese Daten zur Verfügung stellen, „um die internationale Zusammenarbeit zu fördern und ein internationales Benchmarking zu ermöglichen.“ Benchmarking ist ein Begriff aus dem Qualitätsmanagement zum systematischen Vergleichen von Leistungen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die bisherigen Akteurinnen und langjährigen Expertinnen zu dem Thema Gewalt gegen Frauen müssen sich glaube ich sehr anstrengen, dass ihnen/uns der Sinn und die Ausrichtung unserer Arbeit nicht aus der Hand genommen werden.

Das Psycho-Soziale in der Verwertungslogik des Marktes

Zu dem Hintergrund, wer sich noch alles „Das Psychosoziale“ zum eigenen Anliegen macht möchte ich Ihnen Ausschnitte aus der Trend-Forschungskonferenz mit dem Thema „Der Kult des Sozialen. Der neue Konsument im Europa 2015“ vorstellen:

Shopping ist die Erziehung des Gefühls für die Welt des 21. Jahrhunderts. Man lernt, was ‚in’ ist und erkundet ein Wertefeld. Wir gehen einkaufen, um herauszufinden, was wir wollen. Wünsche und Vorlieben entstehen nicht aus der Seele oder aus dem Bauch, sondern aus der sozialen Situation. Deshalb müssen erfolgreiche Produkte einen sozialen Mehrwert bieten… Die moderne Wirtschaft braucht eine soziale Software. Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich von der des 19. und 20. Jahrhunderts ganz radikal. Im 19. Jahrhundert hat man die Wirtschaft als Ökonomie des Geldes verstanden, die vom Prinzip der Knappheit regiert wird. Im 20. Jahrhunderts entdeckte man die Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der die Zeit der kritische Faktor ist. Im 21. Jahrhunderts wird man die moderne Wirtschaft aus der Perspektive einer Ökonomie der Identität begreifen, in der es um Anerkennung geht. Gefühle zählen. Schon vor Jahren hat uns das Emotional Design gelehrt, dass Gefühle nicht den Individuen gehören, sondern den Beziehungen…. Das Soziale wird zum Medium des Konsums… Deshalb sind wir unterwegs von der Experience Economy zur Beziehungsökonomie..“. Damit „entdeckt auch die Wirtschaft das Du… Der soziale Mehrwert, um den es hier geht, ist also ein ‚linking value’. Der Link ist wichtiger als das, was er verknüpft..“.  Deshalb wird vorgeschlagen, Marketing in Societing umzubenennen.13

Ich stelle fest, dass sich die Marktforschung offenbar mit den gleichen sozialen Elementen befasst, wie wir Therapeutinnen. Mit dem Unterschied, dass die einzige Bindung, um die es dabei geht, die Bindung an die Marke ist. David Bosshard,14 der Chef eines Schweizer Marktforschungsinstituts, sieht einen neuen Trend: statt eines männlichen Effizienzdenkens  seien jetzt mehr weibliche Qualitäten im Management gefragt. Auf dem 14. deutschen Trendtag in Hamburg stellte er die Resilienz der Effizienz gegenüber. Resilienz bezeichnet in der  Psychologie die Widerstandsfähigkeit, an Belastungen und Krisen nicht zu zerbrechen, sondern über soziale und psychische Unterstützungsfaktoren zu verfügen, die Selbstvertrauen und Regeneration ermöglichen. Ressourcenorientierung oder Resilienzförderung sind für uns Grundlagen, um großes Leid überhaupt bearbeiten zu können, ohne neu überfordert oder überwältigt zu werden. Diese Resilienz-Schutzfaktoren gelten sowohl für KlientiInnen, als auch für TherapeutInnen. Für den Marktforscher Bosshard ist Resilienz die robuste weibliche Kraft, der er folgendes zuschreibt: „innere Kraft, den Kontext sehen, Homeworking, Networkung, Shitworking“,15 eine Kraft, die der Markt der Zukunft brauche, weil nur mit ihr Effizienz erst ermöglicht werde. Wenn Teile der Marktforschung den unsichtbaren Anteil der Frauenarbeit nicht weiter ignoriert, sondern ihn ins Blickfeld rücken will, sollten wir klug unterscheiden, ob es um Emanzipationspotential oder Verwertungslogik geht. Denn: was interessiert einen Marktforscher an Resilienz? Weil „das Wachstumspotential sehr viel größer ist, wenn man Hoffnung hat, als wenn  man Angst hat.“ Und er meint damit kein inneres Wachstum.

Es scheint fast, als könnten wir Hand in Hand mit der Wirtschaft in eine resilienzorientierte und hoffnungsvolle Zukunft schreiten. Doch wenn McKinsey in einer Studie feststellt, dass geschlechtergemischte Führungsgremien bessere Umsätze erzielen als homogene, sagt das noch nichts darüber aus, welche Arbeits- und Lebensbedingungen  dies für die Menschen bedeutet.

Neuzeitliche Marktökonomie bedient sich der Philosophie, Soziologie und Psychologie und das macht sie richtig gefährlich. Sie reproduziert eine große Schere im Kopf zwischen einem ALLES-IST-MÖGLICH, soweit es individuelle Flexibilität und Selbstoptimierung, den Zugriff auf Körper, Konsum und individuelle Gesundheitskonzepte betrifft – und einem ES-GIBT-KEINE-ALTERNATIVE, soweit es gesellschaftspolitische Strukturen oder wirtschaftliche Verantwortlichkeiten betrifft.

Machen wir es zu unserer Ressource, achtsam zu sein und die Sehnsucht nach Freiheit nicht zu verwechseln mit der Beliebigkeit und Illusion der Wahlfreiheit… zu kaufen, was ich will, auszusehen, wie es angesagt ist, …

Empowerment in Therapie und sozialer Arbeit bedeutet die Kunst, gerade angesichts der proklamierten Freiheiten die hohen Normierungsgrade zu erkennen und einen tatsächlich selbstbestimmten Weg jenseits von permanenter Selbtoptimierung zu finden.

Auf einer Tagung des Arbeitskreis Frauengesundheit sagte Elisabeth Helming: „Aber das Paradox bleibt, dass Menschen sich wirklich besser fühlen, ihr Wohlergehen steigern, wenn sie selbstsorgsam und selbstverantwortlich handeln. Aber es muss um mehr als nur „Funktionieren“ gehen. Es beinhaltet, eigene Ziele wählen können: Wirkliches Wohlergehen braucht – wie die salutogenetische16 Forschung gezeigt hat, das Erleben von Selbstwirksamkeit, und Professionelle müssen fein und differenziert ‚balancieren’, um mit salutogenetischen Gedanken nicht in neoliberale Haltungen zu geraten.“17

Bleiben wir also unberechenbar und beständig, verbunden und aufsässig, klug und sinnlich, und reden wir weiter auch persönlich miteinander und pflegen wir fassbare Freundschaften, wie real oder virtuell sie auch immer zustande kommen.

Anregungen, Kommentare? Ich freue mich über Rückmeldungen.

© Marita Blauth bedeutet: Gerne zitieren, weiterdenken, verbreiten, aber bitte mit Angabe der Quelle.

Freundlich wäre Info an mich: info@tubf.de


1 Dazu: http://weltenlaeufer.wordpress.com/2010/10/18/zitat-des-tages-das-bruttosozialprodukt-robert-kennedy/

2 Das DALY-Konzept wurde erstmals 1993 imWeltgesundheitsbericht (World Development Report) von der Weltbank präsentiert und findet seitdem in einer Vielzahl von empirischen Analysen in den Bereichen Epidemiologie, Public Health und Gesundheitsökonomie Anwendung und hat sich in den letzten 10 Jahren weltweit als singuläre Maße der Gesundheit in zentralen Datenwerken wie dem ‚Human Development Report'(UNDP 2001), dem ‚World Health Report‘ der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001) oder dem ‚World Development Report‘ der Weltbank (World Bank 1993) durchgesetzt.

3 Der Beitrag in der Schweizerischen Ärztezeitung von 2004 mit dem Titel „Kann das Qualitätsmanagement das Jahr 2004 erleben?“ ist leider online nicht mehr verfügbar.

4 Sehr empfehlenswerter ZEIT-Artikel dazu: http://www.zeit.de/2012/21/Klinik-Gesundheitsreform/seite-1

5 Er handelt in eine Menschenwelt hinein, in welchen ihm, da sich sein Handeln ja notwendigerweise auf andere Menschen bezieht, alles was er tut immer schon aus der Hand geschlagen wird bevor er sozusagen fertig ist. Das Äußerste, was er tun kann, ist die Dinge in eine gewisse Richtung zwingen, aber auch dessen kann er nie sicher sein, denn jedes neue, von einem anderen Menschen herrührende Handeln, ändert  mit einem Schlage alles. Und zwar nicht nur in dem Sinn, dass nun das Getane sich als vergeblich erwiese, sondern so, dass es in dem Gesamtprozess gleichsam an eine andere Stelle zu stehen kommt, also einen anderen Sinn erhalten kann.“
Aus: Hannah Arendt, Natur und Geschichte, Gespräch aus dem Jahre 1957 (https://www.youtube.com/watch?v=LzA4cM39ZXY (Minute 38.44))

6 medico Mitschnitt: http://www.medico.de/download/sympo2012/brenssell.mp3 und in Analyse und Kritik Nr. 571 (April 2012) „Krise Krankheit und Wiederstand“ von Ariane Brenssell

7 Richard G. Wilkinson (2001). Kranke Gesellschaften. Soziales Gleichgewicht und Gesundheit.

8 Süddeutsche.de  30. 4. 12

09 (H. Keilson, Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart 1979) 1936 mit seiner Frau Gertrud in die Niederlande emigriert und ab 1940 im Untergrund für den holländischen Widerstand als Kurier, Arzt und Therapeut tätig.

10 Stiftung für verbrannte und verbannte Dichter-/KünstlerInnen – exilarchiv.de

11 www.bit.ly/2J7SFt3

12 siehe auch: https://tubf.de/oekonomisierung-des-sozialen-wie-konnte-das-bloss-passieren/

13 Aus dem Text von Prof. Norbert Bolz, 19. September 2011 (8. European Trend Conference)

14 David Bosshart ist CEO des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) für Wirtschaft und Gesellschaft, Rüschlikon/Zürich. Er promovierte in Philosophie und politischer Theorie an der Universität Zürich. Seine Schwerpunkte sind die Zukunft des Konsums und sozialer Wandel, Management und Kultur sowie politische Philosophie. Das Institut ist ein unabhängiger europäischer Think Tank für Handel, Wirtschaft und Gesellschaft.

15 https://vimeo.com/4795196

16 Der Begriff Salutogenese (aus: salus (= Heil, Gesundheit) und genese (=Entstehung)) bedeutet soviel wie Gesundheitsentstehung oder die Ursprünge von Gesundheit und wurde vom israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) in den 1970er Jahren entwickelt. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit kein Zustand, sondern muss als Prozess verstanden werden. (Quelle: pflegewiki)

17 „Gesundheit fördern – Lebensperspektiven eröffnen. Ressourcen von Frauen in Armutslagen stärken“ Vortrag von Elisabeth Helming, DJI auf der 16. Jahrestagung des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.: „Frauengesundheit in sozialer Ungleichheit“, Kassel 2009