antikapitalistische Transparent

„Ökonomisierung des Sozialen – wie konnte das bloß passieren?“ 

2013

Es war verführerisch, die neoliberale Umstrukturierung mit ihren modernen Begrifflichkeiten für eine Aufwertung sozialer Arbeit zu halten. Es ging jedoch um eine fundamentale Wandlung hin zu einer Vermarktung des Sozialen, auch mit den Instrumenten Zertifizierung und Qualitätsmanagement.

Ich arbeite in der TuBF Frauenberatung in Bonn. Seit über 30 Jahren beraten wir Frauen, aber noch nie waren wir in Therapien und Beratungen mit so viel existentieller materieller Not konfrontiert, mit so viel Angst zu verelenden, Angst die Wohnung zu verlieren, Angst aus Mangel und Druck krank oder verrückt zu werden, wie in den letzten fünf /sechs Jahren.

Die Hartz IV 1 Kommission und die Agenda 2010 hatten eine tief greifende Wandlung in der Gesellschaftspolitik eingeläutet.

Es war vielleicht zu Beginn verführerisch, die neoliberale Umstrukturierung mit ihren modernen Begrifflichkeiten als positive Entwicklung und Aufwertung sozialer Arbeit zu begrüßen: Die Menschen, die Sozialleistungen beziehen, sollten nicht mehr gegängelte, unmündig gemachte und im bürokratischen Zuständigkeitsgerangel aufgeriebene HilfeempfängerInnen sein, sondern sie könnten ganz emanzipiert als souveräne KäuferInnen von Dienstleistungen ihre temporäre Hilfsbedürftigkeit überwinden. Sie wurden zu „KundInnen “, die selbstoptimiert und zielführend zu UnternehmerInnen ihrer Arbeit oder Arbeitssuche werden sollen – und die Sozialarbeit als traditionell weiblicher Beruf ohne hohen Rang könnte sich vielleicht in die Sphären des Managements aufschwingen und so gesellschaftliche Anerkennung erreichen.

Tatsächlich erleben wir heute Unzufriedenheit auf vielen Ebenen: Weniger Zeit für die konkrete Arbeit mit Menschen, für  Beziehungsaufbau, kollegiale Reflexion und soziale Verbindung in der praktischen Sozial- und Pflegearbeit; Entwürdigung und Disziplinierung von Menschen, die ihren Erwerbsarbeitsplatz verlieren oder aus anderen Gründen Unterstützung suchen.

In der TuBF stärken wir Frauen in ihrer Handlungsfähigkeit und Selbstfürsorge, wir stehen angesichts der gesellschaftlichen Zwänge und staatlichen Abhängigkeiten aber auch selbst  vor der Notwendigkeit, politisch aufmerksam und handlungsfähig zu bleiben, z.B., das Recht auf eine menschenwürdige soziokulturelle Existenz für alle zu verteidigen. Deshalb haben wir diese Beratungsstellentreffen initiiert. Und deshalb möchte ich nun etwas ausholen, um den politisch-ökonomischen Hintergrund aufzugreifen.

Ich denke nämlich, zu begreifen, wie Menschen mit Absprachen oder Abkommen die Lebensbedingungen verändern, kann helfen, dass andere Menschen mit anderen Absprachen bessere Lebensbedingungen schaffen können.

Ökonomischer Hintergrund

Die Politik der Agenda 2010 ist ohne den Blick auf die Welt der Ökonomie, also des Handels nicht zu begreifen. So wurden seit 1947 2 in sogenannten Welthandelsrunden, der Handel global ausgedehnt. Das wurde erreicht, indem die Grenzzölle zunehmend gesenkt wurden.

Mit der Welthandelsrunde in den siebziger Jahren 3, erweiterten sich die Verhandlungspunkte hin zu nicht-zollbezogenen Beschränkungen. Zum ersten Mal wurden inhaltliche nationale Regelungen, z.B. Umweltschutzgesetzen oder öffentlich finanzierte Sozialdienste auf ihre handelsrelevanten Aspekte hin betrachtet.

In dieser Zeit entstand der sogenannte „Washington Consensus„, ein globales Wirtschaftsmodells, das auf folgenden Prinzipien beruhte:

  • „Wichtigstes Ziel der Wirtschaft ist Wachstum. Wachstum schafft Arbeitsplätze, Reichtum, Entwicklung, Gleichheit, Demokratie.
  • Ökonomische Globalisierung: Alle Grenzen müssen für den globalen Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Investitionen geöffnet werden.
  • Privatisierung.
  • Deregulierung : Regeln und Gesetze, die den Freihandel behindern, müssen dereguliert werden. (dient der Liberalisierung):
  • Globaler Freihandel, nicht lokale Produktion ist die Quelle des Reichtums.
  • Einschränkung der Rolle des Staates, vor allem in der Wirtschaft.
  • Senkung der Steuern für Unternehmer.
  • Einschränkung der Staatsausgaben, z.B. für Gesundheit, Bildung, Soziales usw.
  • Ungehinderte Konkurrenz aller gegen alle zur Ankurbelung der Leistung.
  • Liberalisierung des globalen Freihandels.“ 4

Die Umsetzung fiel in die Zeit der Thatcher- Regierung 5 die uns den Spruch hinterlies, „Es gibt keine Alternative“, und die Zeit der Reagan-Präsidentschaft 6.

Bevor dann ab 1986 die nächste Welthandelsrunde 7 weiterging, wurde bereits Anfang der 80er Jahre die EU aktiv:

Hier wurde 8 seit 1984 der EU Binnenmarkt Schritt für Schritt umgestellt. Das Credo war: Freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr. 9 Diese Umstellung wurde entwickelt von dem Europäischen Runden Tisch von Industriellen, ERT (European Round Table of Industrialist) zu denen u.a. Siemens, Telekom, Bertelsmann, Shell, Nokia und Hoffmann-La Roche gehörten. 10

Diese Gruppe ist innerhalb der EU sehr einflussreich. Oft werden deren ausformulierte Vertragstexte oder Gesetzentwürfe wortwörtlich von der Europäischen Kommission übernommen. Erklärtes Ziel war, Europa sollte zum wettbewerbfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden.

Dazu brauchte es nicht nur Einfluss und Absprachen, sondern auch wirksame Instrumentarien.

So wurde bereits 1988 von 17 führenden europäischen Unternehmen, die „Europäische Stiftung für QM“ (EFQM) gegründet. 11 Sie diente dazu, im Konkurrenzkampf der Weltmärkte ein eigenes Programm zur Erhöhung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit ins Leben zu rufen.

Die EFQM hat ca. 800 Organisationen, neben den Großen wie Telekom, Bertelsmann und Schering,  z.B. auch das DGB-Bildungswerk NRW e.V., den Paritätischen, sowie auch kleinere soziale Vereine

Es war der Startschuss der QM-Systeme und des QM-Denkens, das DIN-Normen aus dem Bereich der Fabrikation in den Dienstleistungsbereich hineintrug.

Dazu später mehr.

Die Ideen des Washington Consensus aus den 70er Jahren war in der EU mit Privatisierungen, Steuerentlastung für Großunternehmen und Einschränkung der Sozialausgaben also schon auf bestem Wege, als am Ende der nächsten Welthandelsrunde 12 dann ein Abkommen unterzeichnet wurde, das 1995 in Kraft trat: Das „Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen“ (General Agreement on Trade in Services) GATS.

Das große Interesse daran, den Dienstleistungsbereich für den freien Markt zu öffnen lag daran, dass er die höchsten Wachstumsraten erwirtschaftet und ca. 60% des globalen Bruttosozialprodukts 13 ausmacht.

Worum geht es dabei? Es sind die Märkte für Finanz- und Kapitalinvestitionen, für Tourismus und Telekommunikation, für Transport, Wasser- und Energieversorgung, und für Gesundheit, Erziehung und Bildung.

GATS, das neue Abkommen der Welthandelsorganisation 14 will den Marktzugang regeln, alle sogenannten Handelshemmnisse beseitigen und regionale Märkte internationalen Anbietern öffnen. Dabei müssen Handelsvorteile für ein Land automatisch auch für alle anderen Mitgliedsländer der WTO gelten.

Ein interessantes Prinzip dabei ist das der Nicht-Diskriminierung (Artikel II des GATS) Dies bedeutet nun keine Antidiskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse oder Religion, sondern es geht dabei ausschließlich um wirtschaftliche Diskriminierung: Internationale und regionale Anbieter müssen grundsätzlich gleich behandelt werden. Staatliche Aufwendungen müssen also in gleichem Maße auch privaten Anbietern zur Verfügung stehen, oder eben keinem Anbieter mehr. Darüber hinaus werden Schadenersatzansprüche für Konzerne gegenüber Regierungen ermöglicht, in deren Land z.B. gestreikt wird oder in dem höhere Arbeitnehmer- oder Umweltschutzgesetze oder in dem z.B. Atomkraftwerke abgeschaltet wurden. Der Schadenersatz für den Konzern soll sich nach der Gewinnschmälerung richten, die dem Konzern durch die Maßnahmen entstanden ist. (Vattenfall Deutschland)

Innerhalb dieser Marktlogik gilt Gemeinwesenorientierung durchaus als unzulässiges Handelshemmnis. Die ganze kommunale Selbstverwaltung steht dabei auf dem Prüfstand.

Auch das Solidarprinzip als einer der wichtigsten Aspekte von Dienstleistungen, oder die Möglichkeit von Quersubventionierung von unterschiedlich rentablen Bereichen muss hier fallen.

In GATS angelegt ist damit die Möglichkeit, dass öffentliche Förderung gemeinnütziger Institutionen als unzulässige Subventionierung gelten würde, wenn kommerzielle Anbieter mit der gleichen Dienstleistung auf den Markt wollen. Das ist bislang im sozialen Bereich nicht eins zu eins umgesetzt, weil es auch international und gerade von engagierten Frauen 15 viel Widerstand gab. Die Myriaden von fachfremden ControllerInnen, die nicht nur in Unternehmen, sondern auch an kommunalen Schreibtischen und in Köpfen der Arbeitenden sitzen, haben aber längst den KostenNutzenFaktor vor jedem professionellen oder menschlichem Wert etabliert. So, als hätte Margret Thatcher recht behalten….

Um das GATS 16 – Abkommen in der EU umzusetzen, wurde 2006 die EU- Dienstleistungsrichtlinie oder Bolkestein-Richtlinie entworfen und ist seit Dez. 2009 eingeführt.

Es begann die „Vermarktlichung“ auch für die sozialen Dienstleistungen.

Obwohl die Regelungen der Sozialdienste ausschließlich bei den Mitgliedstaaten liegt, scheint mit der  EU-Dienstleistungsrichtlinie die Liberalisierung der gesamten Daseinsvorsorge eine spezielle Eigendynamik zu entfalten. Eigentlich sollen die EU-Regeln nur dann greifen, wenn es sich bei Dienstleistungen im sozialen Bereich um „wirtschaftliche Tätigkeit“ handelt.

Während sich Politik und Rechtsprechung noch darüber streitet, was „wirtschaftliche“ und „nicht-wirtschaftlichen“ Tätigkeiten sind, hat der Soziale Bereich bereits die Flucht nach vorne ergriffen. Öffentliche Dienste wie freie Träger sind dabei, sich dem Trend der neuen Kultur in Sprache, Denken und Handeln anzupassen und ihre Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Marktorientierung und Konkurrenzfähigkeit eifrig nachzuweisen.

Ein Instrument, sich in dieses Wettbewerbssystem einschleusen zu können, ist das

Qualitätsmanagement

Wenn mit Waren gehandelt wird und Waren miteinander vergleichbar sein sollen, braucht es gemeinsam anerkannte Maßstäbe des Vergleiches. In der Industrie wurden deshalb DIN und ISO Normen etabliert. Die Waren sind genormt, d.h. sie ist dort, wo man sich über die Handelsnormen einigt, überall gleich, egal wer sie wie herstellt. In der Welt des Warenhandels haben Normen durchaus Sinn, denn die Schraube der Norm x soll schließlich in jedes Land der Welt verkauft werden können und deshalb in das – ebenfalls genormte – Auto oder den Computer auch hineinpassen.

Wenn nun auch Beziehungsdienstleistungen, d.h. Arbeiten im Sozialen, Bildungs-  und Gesundheitsbereich zur Ware werden sollen, braucht es auch in diesem Bereich „Qualitätstandards“, d.h. messbare, normierte Richtmaße, die eine Einrichtung mit einer anderen vergleichbar machen sollen. Dabei findet eine fatale Begriffsverwirrung statt, weil

diese „Qualität“  eben nicht nach einer inhaltlich qualitätsvollen Arbeit fragt, im Gegenteil.

Das „Qualitätsmanagement“ nimmt absurde Formen an. Wir können das z.B. in der Altenpflege mit Schrecken beobachten. Hier wurden standardisierte Leistungen in Verbindung mit Qualitätssicherung im Rahmen der Pflegeversicherung als erstes eingeführt. Jeder Schritt, jede Handreichung ist in einem Raster festgehalten und muss minutiös und zeitaufwendig dokumentiert werden. Die pflegebedürftigen Menschen – und das sind vor allem Frauen – werden immer häufiger von immer weniger werdenden, völlig gestressten, immer häufiger untertariflich bezahlten Personal – und das sind ebenfalls vor allem Frauen – nach einem festgelegten Minutentakt „betreut“. Standardisierungen machen Einrichtungen vergleichbar und fit für den internationalen Wettbewerb. Alles, was nicht in das Erfassungsraster passt, kann nicht gemessen werden, gibt es quasi nicht und kann damit auch nicht bezahlt werden. Menschlichkeit ist hier kein Qualitätskriterium und bleibt für alle Beteiligten auf der Strecke. Die Gesundheitsreform von 2007 drückt es deutlich aus, es gibt ein GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz.

Es ist ein herstellendes – und Waren-Denken, das sich da in die Bereiche der sozial und kontaktvoll handelnden Menschen hineindrängt.

Die Übertragung der Fabrik-Norm auf eine soziale Einrichtung, sah z.B. im Bereich der „Jugendpflege“  folgendermaßen aus:

  • die Industrienorm 6 „Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von Produkten“ wurde zur „Rückverfolgbarkeit des Erziehungsprozesses“
  • die Industrienorm 12 „Prüfstatus der industriellen Produktion“ wurde zur „Abrufbarkeit des Fortschritts in der pädagogischen Akte“
  • die Industrienorm 15 „Handhabung, Lagerung, Verpackung, Konservierung“ mutierte in der Jugendhilfe zu „Rahmenbedingungen und Unterbringung“

Ich gehe mal davon aus, dass sich zumindest die Wortwahl der QM-Systeme auch in der Jugendhilfe mittlerweile verfeinert hat.

In Bezug auf Umsetzung von HartzIV schreibt Prof. Dr. Helga Spindler, Professorin für Öffentliches- Sozial- und Arbeitsrecht und Mitinitiatorin des Bündnisses für eine Sanktionsmoratorium: „Die Bundesanstalt für Arbeit wird aus einer Behördenorganisation in einen Dienstleister mit privatwirtschaftlicher Führungsstruktur überführt.« Alles streng ausgerichtet auf wettbewerbsorientiertes, unternehmerisches Handeln, Controlling, ein bundesweit verfügbares, einheitliches IT- System, Aufbau einer monströsen Datenbank für alle Beschäftigten, Abbau gesetzlicher Regelungen (vor allem von Leistungsansprüchen), Clearingstellen, Selektion der arbeitslosen »Kunden« nach »Profiling« in Betreuungs-, Beratungs- und Informationskunden, die sich anschließend selbst um ihre Vermittlung kümmern sollten, und Aufbau von Kompetenzzentren auf Landesebene und Jobcentern am Ort, die wirklich alle, auch die Versicherten, betreuen sollten. Da winkten zahllose Folgeaufträge in Millionenhöhe für McKinsey/Roland Berger und IT-Lieferanten.“ 17

Kommen wir zurück zur EU-Dienstleistungsrichtlinie.

Nach dieser Richtlinie sollen die Dienstleistungserbringer ermutigt werden, freiwillig Maßnahmen zur Sicherung der Qualität ihrer Dienstleistungen zu ergreifen. Insbesondere sollen sie ihre Tätigkeiten zertifizieren lassen. Freiwillige europäischen Standards sollen gefördert werden, um die Vereinbarkeit zwischen Dienstleistungen der verschiedenen Mitgliedstaaten zu verbessern. So steht es im Art. 31.

Also: Sowohl EU-Binnenmarkt wie globaler Wettbewerb erwarten mittlerweile als internationale „Spielregel“ des Handels von allen Anbietern Qualitätsstandards in Produkten und Dienstleistungen und entsprechende Zertifizierungen, weil es auf diese Weise überhaupt erst möglich ist, eventuelle „Handelshemmnisse“ feststellen zu können.

D.h., Qualitätsmanagement ist eine Handelsvoraussetzung, damit die Marktkonkurrenz sicherstellen kann, dass sie kein Handelshemmnis ist.

Wir müssen uns also fragen, wie solch ein Qualitätsmanagement aussehen soll, damit es einerseits die erforderliche Vergleichbarkeit sicherstellt, andererseits aber auch kein Handelshemmnis für die anderen darstellt. Ein Handelshemmnis könnte eine spezielle kommunal und regional begrenzte Förderung im Sozial- oder Erziehungsbereich sein.

Marktöffnung heißt also: Wettbewerb ermöglichen

Wettbewerb ermöglichen heißt: Vergleichbar sein.

Sich in diesem Wettbewerb zu behaupten, heißt: Innerhalb dieser dann etablierten Vergleichbarkeit „besser“ zu sein.

Auf dem Markt „besser“ zu sein, kann z.B. bedeuten, billiger zu sein, mit den paradoxen Konsequenzen: Der einzelne billigste Anbieter macht kurzeitig  das Rennen. Wenn aber alle immer billiger werden, verlieren alle. Übrig bleiben die, die groß oder global genug sind, um den eigenen Abwärtstrend so lange aufzufangen, bis die Konkurrenten vom Markt gefegt sind.

Auf dem Markt „besser“ zu sein, kann bedeuten, bessere „Qualität“ anzubieten. 18

In dieser ganzen QM- Dynamik stellt die Zertifizierung ein Objekt der Begierde dar, kann es doch als Etikett zum eigenen Marktvorteil benutzt werden.

Was bedeutet es nun, wenn ich im Konkurrenzkampf den Marktvorteil „zertifziert“ habe? Einen Marktvorteil habe ich nur solange, bis alle Beteiligten zertifiziert sind.  Also muss  ich (wie “ immer billiger“) immer „zertifizierter“ werden, also entweder über mehr oder bessere Zertifikate verfügen als die Konkurrenz

… und immer so weiter. Das erklärt, dass die DIN ISO Normen lange nicht mehr hinreichen und schon als altmodisch abgetan  werden, weil dieses Zertifikat, einmal erworben, die Schraube nicht mehr höher schraubt.

Es folgten diverse QM-Konzepte mit ihren jeweiligen Anbietern und Techniken. Modern und in der Sozialarbeit geschätzt ist dabei der wohlklingenden Begriff „Prozessqualität“. Der immense Vorteil dabei ist, dass sie immer wieder neu überprüft werden muss. Ein wahrhaft endloser Prozess und eine dauerhafte Einnahmequellen für Zertifizierungsstellen. Klingt doch ganz nachhaltig…

Zertifizierungsstellen sind im Übrigen in der o.e. Bolkestein Richtlinie explizit als Dienstleister benannt, für die Handelshemmnisse europaweit beseitigt werden sollen.

Eine unendliche Geschichte, quasi ein sich selbst tragendes System: Zertifiziern kann grundsätzlich jeder. Die Zertifizierer selbst müssen auch zertifiziert sein. Es gibt für die zertifizierende Stelle ebenfalls Normvorschriften (EN 45012), deren Einhaltung wieder kontrolliert wird, die zertifizierenden Stellen müssen sich, wenn sie international anerkannt sein wollen, akkreditieren lassen. Dafür gibt es den deutschen Akkreditierungsrat (DAR) und darin die Trägergemeinschaft der akkreditierten Zertfizierer (TGA). Eine Akkreditierung  kostet viel Geld und ist mit allerlei Auflagen belegt. Zudem wird man als Zertifizierer auch regelmäßig einer Prüfung unterzogen, die ebenfalls nicht kostenlos ist…

Erschreckend normal sind Zertifizierungen und Qualitätsmanagement-Systeme geworden. „Psychische Belastung“ wird dann schon mal nach der Norm DIN EN ISO 10075 erfasst. Die internationale Masseinheit für Krankheit ist DALY 19. Meint: disability-adjusted life years. Dieser Wert berechnet z.B. Behinderung als verlorene Lebensjahre, multipliziert mit einem bestimmten Prozentwert je nach Höhe der Behinderung. Um so eine Maßeinheit für „Lebensqualität“ zu konstruieren wird ein negativer Behinderungsindex angesetzt, der bei hohen Werten eine niedrige Lebensqualität beschreibt: das behinderungsbereinigte Lebensjahr: Disability-Adjusted Life Year, DALY. Dieses Konzept geht außerdem davon aus, dass die Belastung durch eine bestimmte Krankheit oder einen bestimmten Unfall überall auf der Welt dieselbe ist und ignoriert komplett länder- und kulturspezifische Unterschiede.

Solche irrsinnigen Messinstrumente werden entwickelt, wenn auch Gesundheitsdienstleistungen zum global berechenbaren Geschäft werden.

 „Aber mit der Fürsorge- und Pflegearbeit gibt es ein fundamentales Problem unter der Maßgabe von wirtschaftlicher Effizienz: Rationalisierung und Produktivitätssteigerung – und das sind ja die normativen Prämisse für Wirtschaftlichkeit – hat ihre Grenze an der Menschlichkeit. Das zeigte die Einführung von Pflegemodulen mit der In-wert-Setzung von Handreichungen im Minutentakt. Körperpflege, Beziehungsarbeit, Zuwendung sind nun einmal nicht grenzenlos zu beschleunigen. Deshalb wird versucht, unter dem Effizienzdiktat die Beziehungsarbeit – das Fürsorgliche – aus der bezahlten Ökonomie herauszukatapultieren, zu externalisieren. Die Altenpflegerin, die trotz Zeitterror und Leistungskontrolle auch noch ein paar Streicheleinheiten gibt, schadet sich ökonomisch selbst, denn dies bekommt sie nicht bezahlt. Das Abrechnungssystem der Kassenärzte bestraft sie wirtschaftlich für genaues Hinhören und Beziehungspflege zum Patienten. Das Effizienzprinzip steht quer zum Sorgeprinzip und führt deshalb zur Abwertung oder Abspaltung der Sorgearbeit. Ökonomisierung der Gesundheitsarbeit bedeutet eine „fachliche“ Trennung von medizinisch-technokratischen und sozial-pflegerischen Arbeiten. Damit öffnet sich die Schere zwischen besserverdienenden produktivitätssteigernden Wissens- und Technikarbeitern und niedrig entlohnten, „unproduktiven“ Pflege- und Sorgearbeiterinnen weiter. Hierarchisierung und soziale Polarisierung verstärken sich.“ (Christa Wichterich)

Was machen also die sozialen Dienstleister?

Wenn sie nicht wirtschaftlich tätig sind, unterliegen sie nicht der EU-Richtlinie. Und da, wo es den gesetzlichen Zwang zu QM oder Zertifizierung gibt, wird er bislang nicht offensiv in Frage gestellt. Zu Beginn der ganzen Regelungen wurden die Zwänge gerne zum eigenen Anliegen umdefiniert. Mittlerweile ist die Auswirkung der Ökonomisierung des Sozialen jedoch so offensichtlich, dass es grummelt und die Unzufriedenheit wächst.

QM- Denken und standardisierte Management-Verfahren sind eine solche Verschwendung von Kreativität, Lebensfreude und Professionalität. Ich würde gerne diese Veranstaltung dafür nutzen, miteinander mal einen Schritt zurückzutreten und unser Tätigsein zu reflektieren. Was wäre, wenn es möglich wäre, die Fülle unserer Erfahrungen und Kompetenzen wirklich mit Lust und guter Wirkung in der Arbeit, für uns und auch für die Welt einzusetzen?

Ich bin der Überzeugung, wenn wir davon ausgehen, was uns an unserer Arbeit, unserer Kompetenz, Sinn und Freude macht und wenn wir uns erlauben, das zum Ausgangspunkt unseres Strebens zu machen, dann öffnen sich Räume.

Ich möchte schließen mit zwei Zitaten von Hannah Arendt:

„Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“ 20

„Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen abschließend, dass dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in irgendeinem schwer zu fassenden, aber grundsätzlichen Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.“ 21

Marita Blauth, 2013


1 „Peter Hartz soll nicht damit entschuldigt werden, daß er das nicht ganz so wollte. Aber die Konzentration auf ihn vernebelt auch, daß die Vordenker und Strategen weiter unangefochten ihre Arbeit vorantreiben, hoffähig machen in Wissenschaft und der Ausbildung junger Menschen, daß Sozialtechnokraten jedweder politischer Couleur Verwaltungen und Staat umformen. Ich persönlich hätte »Hartz I bis IV« lieber nach den Mitgliedern benannt, die wußten, was sie in dieser Kommission anschieben wollten. Oder politisch gewendet: »SCF I bis IV« nach Schröder, Clement und Fischer. Aber man kann es auch Steinmeier, Scholz, Müntefering, Steinbrück, Brandner, Trittin, Künast, Kuhn, Göhring-Eckardt, Dückert I bis IV nennen. Denen allen, samt Führungspersonal aus Gewerkschaft und Wohlfahrtsverbänden, erweist Peter Hartz einen unschätzbaren Dienst: Er hält auch weiterhin als Buhmann den Kopf für sie hin.“ Helga Spindler Stunde der Technokraten in  Junge Welt vom 22.2.2012

2 ( GATT Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen)

3 „Tokio-Runde“ (1973-1979),

4 Aus: Deprofessionalisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit – gegenläufige Antworten auf die Finanzkrise des Sozialstaates oder Das Selbstabschaffungsprogramm der Sozialen Arbeit  von Prof. Dr. Silvia Staub-Bernasconi

5 1979-1990

6 1981-1989

7 Die Uruguay-Runde (1986 – 1994):In dieser Verhandlungsrunde verlagerten die Industrieländer ihren Fokus erstmals von der Liberalisierung des Warenhandels auf den sogenannten „Handel mit Dienstleistungen“ und den Schutz geistigen Eigentums. Die Gründung der WTO wurde beschlossen.

8 (nach dem Europäischen Währungsystem EWS 1979)

9 (Þ 1985 EU Weißbuch Þ 1987 Europäische Akte) das dann 1991Maastrich-Vertrag einging (Ende  der Währungsunion und Stabilitätspakt).

10 Zwei EG Kommissare waren auch mit von der Partie. Die beiden EG-Kommissare (Davignon und Ortoli) wurden später Mitglied des ERT, waren Vorsitzende der belgischen Großbank (Sociètè Gènèrale de Belgique) bzw. des französischen Erdölkonzerns Total (heute TotalFinaElf), und Präsident bzw. Vizepräsident der Europäischen Währungsunion.

11 (Bosch, BT, Bull, Ciba-Geigy, Dassault, Electrolux, Fiat, KLM, Nestlé, Olivetti, Philips, Renault, Sulzer, Volkswagen)

12 Uruguay-Runde (1986 – 1994)

13 In jüngster Zeit wird in den Statistiken der Begriff Bruttosozialprodukt durch Bruttonationaleinkommen (BNE) ersetzt.

14 WTO,globale internationale Org.,Sitz Genf, Regelung von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen. 146 Mitglieder, unter anderem die EU (1.1.2002).  Die WTO wird von keinem Parlament kontrolliert und ist keiner UNO-Organisation rechenschaftspflichtig! Sie ist mit völlig neuen Rechten, ja völkerrechtlichen Verbindlichkeit ausgestattet, wie sie – mit Ausnahme des UN-Sicherheitsrats – keine andere internationale Organisation für sich in Anspruch nehmen kann..

15 Vandana Shiva, Maude Barlow, Maria Mies, Claudia Werlhof, Christa Wichterich, Marianne Hochuli, Frauen von feminist-attak,…

16 Es gab viel Widerstand von unterschiedlichster Seit gegen die Liberalisierung der Dienstleistungen, vor allem der öffentlichen Dienstleistungen, wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Wasserversorgung. Die Verhandlungen sind an diesen Punkten nicht so reibungslos verlaufen, wie z.B, im Bankensektor.

Jetzt gibt es einen neuen internationalen Versuch: Er heißt „Trade in Services Agreement“ (TISA). Er verschärft die GATS Bestimmungen und wird aber hoffentlich auch nicht widerspruchsfrei durchsetzbar sein.

17 Helga Spindler Stunde der Technokraten in  Junge Welt vom 22.2.2012

18 Dass damit nicht gute Qualität gemeint ist, zeigt die Wirkung der Privatisierung  der Wasserversorgung in England: „Auch der Qualitäts-Standard bleibt auf der Strecke: seit der Privatisierung von Wasser haben sich in Großbritannien die Hepatitis A-Fälle um 200 % erhöht, die von Dysenterie (Ruhr) um 600 %.“ (Inge Hasenöhrl, Angelika Hofmann feministATTAC

19 Das DALY-Konzept wurde erstmals 1993 imWeltgesundheitsbericht (World Development Report) von der Weltbank präsentiert und findet seitdem in einer Vielzahl von empirischen Analysen in den Bereichen Epidemiologie, Public Health und Gesundheitsökonomie Anwendung und hat sich in den letzten 10 Jahren weltweit als singuläre Maße der Gesundheit in zentralen Datenwerken wie dem ‚Human Development Report'(UNDP 2001), dem ‚World Health Report‘ der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001) oder dem ‚World Development Report‘ der Weltbank (World Bank 1993) durchgesetzt.

20 Hannah Arendt „Vita activa“Piper 1981 S. 214/215

21 Günter Gaus, 1964. Zur Person. Porträts in Frage und Antwort. I. München: Feder Verlag, S.31f