Biene auf Blüte

Von der Tatkraft zur Arbeitskraft im aktivierenden Sozialstaat – Vortrag zum 30. TuBF Jubiläum von Prof. Dr. jur. Helga Spindler

2012

Prof. Dr. jur. Helga Spindler stellt in ihrem Vortrag wegweisende sozialpolitische Bezüge her. Die Tatsache, dass mehr Frauen* an die Spitze kommen, bedeutet noch lange nicht automatisch eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle. Kaum befreit von Kirche, Küche und manchmal auch Kindern …

Meine Aufgabe ist es ein wenig sozialpolitische Bezüge herzustellen und aktuelle Probleme zu benennen. – Wasser in den Wein zu gießen.

30 Jahre Frauenberatung und Therapie: was hat sich seit 1982 nicht alles entwickelt für uns Frauen. Z.B. in der Bildung: an den Universitäten studieren schon fast mehr Frauen als Männer ( mit Ausnahme dieser trockenen „Mint“ – Fächer ). Wir werden sogar immer mehr Professorinnen – jedenfalls im Vergleich zu vor 30 Jahren, als ich meine erste Stellen an der Fachhochschule angetreten habe und wo man uns noch gar nicht zählte. Dabei war das gar nicht so schwer. 1993 , als man das erste Mal nachzählte, da fand man knapp 7 % Professorinnen und heute sind wir zwar auch erst bei 19 %, aber das ist doch schon mehr und das Problembewusstsein ist erheblich gewachsen.

Frauen erreichen auch ansonsten schon Spitzenämter in der Politik, in den Gerichten, und selbst in der Wirtschaft, wenn auch noch nicht ganz so zahlreich. Aber für einen Posten bei den Wirtschaftsweisen reicht es doch schon. Und sie können genauso verantwortungslos zocken wie die Männer: Ina Drew hat vor ihrem Abgang bei JP Morgan wegen einer großen Fehlspekulation 15,5 Millionen Dollar Gehalt im Jahr kassiert. Oder wie man in Großbritannien an Rebekah Brooks gesehen hat, sie können auch genauso unappetitliche Zeitungen herausgeben wie Männer.

Nicht nur an der Spitze, auch für die Mehrheit der Frauen hat sich viel geändert. Aber Frau muss wachsam sein, denn die Tatsache, dass mehr Frauen an die Spitze kommen , bedeutet noch lange nicht automatisch eine Verbessung der Lebens- und Arbeitsbedingungen – für sie wie für die Männer.

Kaum befreit von Kirche, Küche und manchmal auch Kindern stehen sie vor neuen Anforderungen. Statt für Ehemann und Kirche sollen sie sich für ihren Arbeitgeber einsetzen, statt für die Küche sollen sie für die Selbstvermarktung üben. Rührend kümmert sich die Politik um die Kinderbetreuung so rasch wie möglich nach der Geburt. Warum ? Die Frau, besonders auch die gut ausgebildete, wird als Arbeitskraft benötigt. So entstehen neue Allianzen zwischen Frauenrechtlerinnen und Ökonomen, von denen wir bisher nichts geahnt hatten.

1982 – da war es nicht mehr lange hin bis 1989. Da passierte eigentlich etwas Erfreuliches Deutschland wurde wiedervereinigt. Die Spaltung in Ost und West löste sich auf. Viele kommunistische Staaten mussten eingestehen, dass sie weder wirtschaftlich noch politisch zu überzeugen vermocht hatten. Das hatte allerdings noch eine andere Seite. Denn die Systemkonkurrenz zum Sozialismus sorgte bis dahin gerade in Deutschland dafür, dass man auf eine sozialen Regulierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung achtete, weil man sich gegenüber dem andern Staat keine Blöße geben wollte.

Diese Notwendigkeit fiel nun weg und seither wird mehr und mehr deutlich, dass auch der Kapitalismus, vor allem wenn er immer mehr dereguliert wird, nicht immer wirtschaftlich und politisch zu überzeugen vermag.

Es begann mit der Auslagerung vieler Produktionszweige und einem intensiveren weltweiten Handel, der Globalisierung. Auch das müsste zunächst kein Problem sein, wenn man sich auf den Aufbau neuer Beschäftigung, eine funktionierende Binnenwirtschaft konzentriert hätte und man darauf geachtet hätte, dass die Lebensverhältnisse in den Schwellenländern sich möglichst kontinuierlich entwickeln. Statt dessen versucht man seither die Bedingungen in Deutschland unauffällig aber systematisch zu verschlechtern.

Ich hatte in diesen Jahren Zeit, als Arbeits- und Sozialrechtlerin bei der Ausbildung von Sozialarbeiterinnen diese Entwicklung, diese Veränderungen zu beobachten.

1.) Eine vielschichtige Entwicklung

Die Entwicklung wir allgemein als ein Übergang zum aktivierenden Sozialstaat bezeichnet.
Dieser Staat zieht sich keinesfalls aus der Gesellschaft zurück, wie ihm auch vorgeworfen wird, nein er mischt sich weiter ein, z.T. intensiver als vorher, aber anders. Vorgeblich geht es um neue Eigenverantwortung und man möchte meinen, das führe zu mehr Handlungsspielräumen, zu mehr Autonomie, aber leider funktioniert es umgekehrt. Es findetspätestens seit der Agenda 2012 deutlich zu beobachten- , eine Art sozialpolitischer Zangenbewegung statt, die genau betrachtet, vier Ebenen umfasst, auf denen die Veränderungen gleichzeitig ablaufen, wo neue Steuerungselemente implementiert werden, was die Lage so unübersichtlich macht, weil die Gesamteffekte nicht mehr beherrschbar sind.

Es handelt sich um
1a ) erstens eine Senkung des Existenzminimums für die, die nicht genug Einkommen haben,
1b) zweitens eine Entrechtung derjenigen, die Arbeit suchen,
1c) drittens eine Umorientierung der Dienstleister die Hilfen anbieten, und das alles zu dem Zweck, auf einer
1d ) vierten und wichtigsten Ebene, dem Arbeitsmarkt neue Regeln zu etablieren eine Entrechtung im Arbeitsleben – Deregulierung und Flexibilisierung genannt- und eine Absenkung der Lohnniveaus zu bewirken.
1


1 a) Die erste Ebene: Senkung des Existenzminimums
Sie betrifft die Reduzierung von existenzsichernden sozialen Leistungen.
Diese Leistungen werden im aktivierenden Sozialstaat neu bewertet: der/die Bürger/in, die bedarfsdeckend alimentiert werden, erfahren dadurch angeblich keinen Zuwachs an Sicherheit und Gestaltungsmöglichkeit, also mehr Autonomie, sich aus belastenden Familien und Arbeitsverhältnissen zu befreien, während Umbrüchen, Krisen Krankheiten und Alter abgesichert zu sein, sondern werden passiv, faul oder zu anspruchsvoll, statt sich dem Arbeitsmarkt zuzuwenden.

Die Absenkung des Existenzminimums unter Negierung der statistischen Erkenntnisse 2 über notwendige Lebenshaltungskosten , hat dabei noch nicht einmal den Zweck nennenswerte Einsparungen zu erzielen, was wegen des geringen Gesamtaufwands nicht möglich ist, sondern das Ziel, Eigenverantwortung zu wecken. Angestrebt wird auf dieser Ebene die neue Selbststeuerung, denn Angst vor nackter Armut soll gefügig und mobil machen. Das Individuum soll sich ständig selbst auf seine Verwertung ausrichten.

Mit der Gesundheitsreform 2004, der Regelsatzreform 2004, den ansteigenden Sanktionen seit Anfang 2006, vielen weiteren Kürzungen am Regelsatz und Unterkunftskosten und der seit einigen Jahren nicht mehr richtig berücksichtigten Inflation wird die finanzielle Schraube bei Millionen Leistungsbeziehern und aufstockenden Niedrigverdienern seit 2003 Monat für Monat ganz langsam aber ganz stetig enger gedreht.3

Dabei würde nicht grundsätzlich etwas gegen eine weitergehende Pauschalierungen von Leistungen sprechen, aber die Höhe muss so ermittelt werden, dass Menschen damit wirklich eigenverantwortlich wirtschaften können .Wer gleichzeitig Gesundheitskosten bis hin zu Verhütungsmitteln, Energie- und Wasserkosten, Kinderregelsätze, Bekleidung und Hausrat, Werbungs- und Bewerbungskosten, Aufwand für Verkehrsmittel und Kommunikation zu niedrig ansetzt, daraus noch Ansparleistungen erwartet und dann auch noch ermöglicht, die Unterkunftskosten auf niedrigster Ebene zu pauschalieren, wozu die neue Gesetzgebung die Verwaltung geradezu ermuntert ( § 22 Abs.1 SGB II ), der hat das alte Bedarfsdeckungsprinzip geopfert, um das Individuum durch regelmäßig auftretende Mangelsituationen auf Trab zu halten, zu aktivieren . Man könnte der allseits beklagten wachsenden Armut ja leicht abhelfen. Während früher das Renten- und das Sozialhilfeniveau angehoben wurden, um diese Folge abzumildern, und heute existenzsichernde Mindestlöhne eingeführt werden könnten, wird dieses in einer großen Koalition geschaffene Niveau überhaupt nicht mehr in Frage gestellt. Politische Akteure beklagen freimütig die Folgen, durchaus ehrlich eingestandener wachsender Armut die sie selbst herbeigeführt haben, aber mitnichten mehr ändern wollen.

Und man muss leider festhalten: sowohl die empfindliche Absenkung der Regelbedarfe 2004, als auch nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 2010, die nicht ausreichende Anpassung der Regelbedarfe heute wurden kompromisslos durch zwei Frauen, eine von der SPD und eine von der CDU, durchgesetzt, die die verantwortlichen Ministerien leiteten und leiten, und das mit den Fragen befasste weibliche grüne Führungspersonal hat das aktiv mitgetragen.

Dass keine dabei ein schlechtes Gewissen hat, dem liegt eine Neubewertung existenzsichernder sozialer Geldleistungen und dem Rechtsanspruch darauf zugrunde, eine Neubewertung von Regeln, auf die wir früher sozialpolitisch gesehen stolz waren. Dazu nur einige Befunde:

Man spricht von „passiven Leistungen“ „passiver Alimentierung“ „alimentierter Untätigkeit“, Die Kombination mit den Begriffen „passiv“ und „Untätigkeit“ soll ausdrücken, dass diese Form der Unterstützung bei den Betroffenen Eigenverantwortung lähmt, Untätigkeit belohnt, manche gehen noch weiter und meinten sie würde „sedieren“, ja geradezu „entwürdigen“. In diese Richtung gehen Wendungen wie „Abhängigkeit vom staatlichen Geldtropf , bloßes Verwahren in Armut“, die Kölner Vordenker sprachen sogar von einer „Verführung Minderjähriger zum staatlich subventionierten Nichtstun“ und in Anlehnung an Basaglia vom weißen Gift der Psychopharmaka und der schwarzen Milch der Wohlfahrtshilfe (so der aus der Sozialpsychiatrie stammende damalige Kölner Amtsleiter Schwendy).4

Oder im neuen Unicef – Bericht:5 Nur starke Eltern könnten ihren Kindern ein Vorbild sein. Richtig! Aber: stark sei nur, wer von eigener Arbeit lebe. Statt die nicht existenzsichernden Löhne für Familien zu kritisieren, werden pauschal alle Eltern für schwach erklärt, die Sozialleistungen beziehen.

Ich will gar nicht leugnen, dass manche Sozialleistung auch zu einer gewissen Passivität, sozialpolitischen Gleichgültigkeit geführt hat, bei manchen zu falschen Schlussfolgerungen bezüglich ihrer Mitwirkungspflichten geführt hat oder auch als Basis für aufstockende illegale Einkommen benutzt worden ist, aber diese in der Missbrauchsdiskussion immer wieder überzeichneten Phänomen dienen heute dazu, ein neues System zu begründen, in dem einfach so wenig gezahlt wird, dass die Leute schon aus purer Not abhängig und erpressbar werden.

Als unhinterfragt menschenwürdig wird dagegen der Aufbau von modernen Suppenküchen-Tafeln gefeiert, die mit Unterstützung der Wirtschaft – selbstverständlich steuerlich begünstigt – von Mc Kinsey aus den USA nach Deutschland importiert worden sind. Da muss man ja „aktiv“ Schlange stehen, statt unerkannt einfach staatliches Geld für Lebensmitteleinkäufe zu verwenden.

Mehr Geldleistung sei nicht finanzierbar, wird argumentiert, und vor der aktuellen Finanzkrise war man vielleicht geneigt, das zu glauben. Aber auch auf Finanzierungsprobleme gibt es immer unterschiedliche Antworten. Wenn behauptet wird, es gäbe zu den Einschnitten keine Alternative, dann ist dagegen zu halten, dass Alternativen auch unterschlagen werden.

Vor vier Jahren hat man einmal durchgerechnet, was eine Erhöhung des Eckregelsatzes auf 420 Euro kosten würde, ein seriös begründeter Regelsatz, der nach vielen Untersuchungen damals geeignet gewesen wäre ein einfaches, keineswegs üppiges Leben zu finanzieren.10 Mrd. Euro Mehraufwand wurde dazu festgestellt.6 2/3 dieses Betrags wären nicht an Arbeitslose geflossen, sondern über Steuerminderung und geringe Aufstockungsbeträge an Niedrigverdiener. Das wäre ein Betrag der nicht nur das Leben etwas erleichtern würde, sondern unmittelbar in den Binnenkonsum zurückfließen würde und nicht in irgendein Steuerparadies. Aber diese Ausgabe ist nicht gewollt, während für die Rettung drittklassiger Banken und ihrer überbezahlten Manager wie IKB, HRE, WestLB ….auf einen Schlag mehr locker gemacht wurde, – von den gegenwärtigen Rettungsschirmen möchte ich gar nicht reden. Auf die Idee, das Steuersystem grundlegend zu ändern und Gelder über die Finanzmarktkontrolle zu beschaffen, kommt man dagegen nur sehr, sehr langsam.

Und für alle die „aktivierenden“ Maßnahmen sind durchaus noch genug Finanzmittel vorhanden. Man denke nur an die Millionenausgaben beim Umbau der Agentur für Arbeit, für neue Hard- und Software, an die horrenden Berateraufträge, für Unternehmensberater wie Mc Kinsey, Roland Berger und Accenture, die seit ihrer Beteiligung an der Hartz – Kommission den Umbau und die Organisation deutscher Sozialbehörden bestimmen. Auch die übrigen Mittel, werden im Moment nur umgeschichtet und sollen möglichst den Bürgern nicht mehr direkt zugute kommen, sondern den Dienstleistern, die sie betreuen und offenkundig immer vordergründiger kontrollieren sollen.

Gespart wird im Rahmen der Instrumentenreform zwar auch an entrechtenden Maßnahmen wie Ein Euro Jobs, mehr jedoch an Instrumenten, die die Bürger schätzen: Gründungsförderung, Weiterbildung und Beschäftigungsmaßnahmen mit Arbeitsverträgen.

1b ) Die zweite Ebene. Entrechtung der Arbeitsuchenden. Abbau von Schutzrechten gegenüber Behörden und Dienstleistern.

Diese Ebene umfasst den Abbau von Schutzrechten gegenüber hoheitlichen Eingriffen, Bevormundung und Erziehung von staatlicher Seite. Gerade etwa die Sozialhilfe hatte das Menschenbild, dass arme Bürger/innen als Rechtssubjekte und nicht als Hilfeobjekte wahrgenommen werden sollten. Der neue Typ des Behördenvertreters ist nicht mehr der gleichmäßig verwaltende Sachbearbeiter, sondern der „Casemanager“ mit umfassender Steuerungsvollmacht und Entscheidungsfreiheit – zunächst am Arbeitsmarkt in Zukunft vermutlich auch im Gesundheits- oder Pflegewesen.

Nach einem Leitbild, das die Bertelsmann – Stiftung vorschlägt, soll der Casemanager gegenüber dem Arbeitslosen die Rolle des „teacher, preacher friend and cop“ einnehmen.7 „Eine Hand“ soll nicht nur Hilfevereinbarungen vorschreiben, den Hilfebedürftigen „fürsorglich belagern“, „Ungemütlichkeit“ organisieren, sondern durch gleichzeitige Drohung mit Leistungseinstellung oder Zurückhaltung von Geldleistungen auch diktieren dürfen, was zu tun ist. Das ist vor allem Kontrolle aus einer Hand; selbst kritische Mitarbeiter in Arbeitsämtern sprechen hier schon von „Verfolgungsbetreuung“. Schon wird versucht, Arbeitslose in Kategorien zu erfassen, die nicht nach Fähigkeiten und beruflichen Anforderungen, sondern nach dem Maß von Integrationswilligkeit und Persönlichkeitsstörung unterscheiden, und darauf Strategien auszurichten, die nur wenig mit Arbeitsvermittlung zu tun haben. Meist soll auch gleich der Hausarzt durch den Amtsarzt ersetzt werden, weil sich der Hausarzt noch nicht kontrollieren lässt und als sozusagen letzte unabhängige Instanz dem Arbeitslosen damit ermöglichen kann, sich unkontrolliert „zu drücken“.

Mit diesen Ansätzen wird wieder der unmotivierte, antriebsschwache, defizitäre Bürger in den Mittelpunkt gestellt, der nicht mehr in der Lage ist, seine Lage zu bewältigen und durch eine mächtige, mehr oder weniger einfühlsame Person gesteuert werden muss. Dieses Setting, wie es im Sozialgesetzbuch II gewählt wurde, das keinerlei Freiwilligkeit und Mitbestimmungsmöglichkeiten vorsieht, lässt jede gleichberechtigte „Koproduktion“ ersticken, die unter anderen Rahmenbedingungen sinnvoll sein könnte.

Leistungseinstellung und Sanktionen haben wie bisher da ihre Berechtigung , wo sich jemand einem konkreten, regulären Arbeitsangebot verschließt, „schwarz“ arbeitet oder Vermögen verschweigt. Aber um das festzustellen, muss erst einmal ein vernünftiger Kontakt aufgebaut werden können und ein Hilfeprozess in Gang gekommen sein, in dem die Menschen ihre Angelegenheit zunächst so weit wie möglich selbst in die Hand nehmen können. Die Entrechtung geht aber bis in Detail: die neue verschärfte Zumutbarkeit lässt auch kaum ein berechtigtes Gegenargument mehr zu, die auf Drängen von Sozialverwaltungen zu weitgehende Beweislastumkehr bringt den schwächeren Bürger in unzumutbare Beweisnöte, der Wegfall der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs schneidet ihm praktisch noch den Rechtsweg ab. Eine Verkäuferin, die das Angebot der Firma Kik ablehnt für 4.50 Euro dort zu arbeiten, eine Frau mit Kindern, die bei der Vorstellung sagt, 7 Euro seien zu niedrig um die Familie zu ernähren und gerne über einen höheren Lohn verhandeln möchte, eine Schwangere im 6. Monat, die es ablehnt in einer gesundheitsgefährdenden Großküche zu arbeiten, ein junger Familienvater, der statt einem Ein Euro Job eine reguläre Arbeit sucht- sie alle wurden gnadenlos sanktioniert – bei den unter 25 jährigen gleich der gesamte Regelsatz gestrichen. Das alles sind wenige Fälle, die nur teilweise durch die Gerichte gestoppt werden konnten, viel andere bleiben unerkannt und die Angst ist existenzbedrohend.8

Trotzdem weigert sich das Ministerium auch nach Aktionen wie dem Sanktionsmoratorium und weiteren parteiübergreifenden Initiativen auch nur ein wenig an den Zumutbarkeitsregeln zu lockern.

Zu dieser zweiten Ebene gehört auch die Übertragung der staatlichen Machtfülle an beauftragte Dienstleister: an Beschäftigungsträger, Bildungsträger. Sie liefern teilweise schon heute Entwicklungsberichte und interne Führungszeugnisse an die Behörde wie früher Erziehungsanstalten an die Eltern und dürfen teilweise schon das Existenzminimum unter Umgehung eines Verwaltungsakts kürzen. Niemand kontrolliert mehr wie in den Beschäftigungsgesellschaften mit den „Kunden“ umgegangen wird. Autonomie und Freiwilligkeit bleiben auf der Strecke.

1c ) In diesem Zusammenhang steht eine dritte Ebene, denn die eingesetzten Dienstleister werden genauso kontrolliert und sollen sich nur auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft und möglich die Vermittlung konzentrieren, nicht mehr auf Beratung und Stärkung der Persönlichkeit, wie noch bei vielen Beratungsangeboten in der Sozialhilfe. Der aktivierende Staat hat ja den Anspruch, nicht nur schnöde zu fordern, nein auch zu „fördern“ und statt Existenzminimum mithilfe gezielter Dienstleistungen Chancen und Befähigung zu bieten.

Und weil er mutig und modern ist, legt er Wert darauf , diese Dienstleistungen effizient zu steuern. Denn die Dienstleister müssen, zumal wenn sie ihre Arbeit im letztlich nicht kontrollierbaren Raum zwischenmenschlicher Beziehung erbringen, ergebnisorientiert funktionieren. Nicht nur, dass sie die Betroffenen ermuntern könnten, sich Veränderungen zu widersetzen, nein sie haben ja auch immer ein ökonomisches Eigeninteresse, ihre Angebote auszuweiten.

Deshalb läuft auf dieser Ebene ein Art Zweifrontenumrüstung; finanziell und in der fachlichen Ausrichtung:

Das Finanzielle erfolgt über einen inszenierten Wettbewerb, durch Ausschreibungen und Vergabepraktiken, der durch den monopolistisch agierenden Staat (man nennt das Monopson) aber von Anfang an verzerrt ist. Mit einseitig behördenorientierten Leistungsbeschreibungen und Erfolgskriterien, detaillierten Berichtspflichten und einem gnadenlosen Preiswettbewerb für soziale Dienstleister, die so weit wie möglich von regulären Arbeitsbedingungen, Einsatz von Fachpersonal etc. Abstand zu nehmen sollen, wird deren Selbstbestimmung unterhöhlt.

In der fachlichen Ausrichtung steht die Zielorientierung und im SGB II Erforderlichkeit zur Arbeitseinmündung bei allen Dienstleistungen im Vordergrund. Das könnte durchaus etwas Positives haben: der Blick auf die berufliche und persönliche Entwicklung des Klienten und das Einfordern von Mitwirkung an einer Erarbeitung von Perspektiven statt unverbindlicher Dauerakzeptanz auswegloser Lebensentwürfe, das ist nicht falsch.

Diese Entwicklung wird allerdings durch eine andere weit überschattet: nicht mehr gefragt ist die emanzipatorische Seite, das klassische Berufsethos der Helferberufe, das Menschenbild, das bei aller Einsicht in die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten öffentlicher Hilfen, das einzelne Individuum akzeptiert und ihm hilft sich zu entfalten. Dazu gehört sowohl den Einzelnen zu befähigen, sich mit den gesellschaftlichen Anforderungen auseinander zu setzen, als auch ihn vor Übervorteilungen, ungerechtfertigten Eingriffen zu schützen und bei der Durchsetzung berechtigter Ansprüche zu unterstützen. Aber bei anwaltschaftlichem Verhalten, Ermunterung und Unterstützung besteht ja gerade die Gefahr, rückwärtsgewandtes Sicherheitsstreben zu verfestigen und das kurzfristig denkende Individuum nicht anzupassen. Früher hätte man das abschätzig als Handlangertum bezeichnet, heute wird das im wohlverstanden Interesse ganz offen angestrebt. Die Zahl der Anleitungen für Sozialarbeit mit nichtmotivierten oder unter Sanktionsandrohung zugewiesenen Klienten nimmt zu. Freiwilligkeit der Teilnahme an einem Beratungsangebot wird zum Fremdwort und Sie werden hier selbst am besten beurteilen können, wie groß der Druck ist, Menschen nur noch anzupassen.

So wird verkürzt die psychosoziale Technik gefragt, Profiling, Assessment, möglicherweise auch noch eine gewisse manipulative Fähigkeit. Und dafür werden durchaus großzügig Mittel bereit gestellt und intimste persönliche Erkenntnisse über Arbeitslose aus psychologischen Testverfahren, Profilings oder Beratungsgesprächen werden an Behörden weitergeleitet, und gespeichert. Da sollen nach dem Konzept für beschäftigungsorientiertes Fallmanagement der BA nicht nur Daten zur Person und zur beruflichen Qualifikation und den Perspektiven erhoben werden, sondern auch zu Verhaltensauffälligkeiten, Zeichen mangelnder Anpassungsfähigkeit, zu Drogengebrauch und psychischen Erkrankungen, zu persönlichen Vorlieben und zum Freundeskreis, zu Frustrationstoleranz und Erfolgsorientierung. Sogar die Bildzeitung bezeichnete dies spontan als „Intimverhöre“. In der SGB II Förderung, die die frühere Sozialhilfe weitgehend abgelöst hat, geht es zu einseitig um ein Erfolgskriterium: es wird nur noch gemessen, wie rasch jemand aus dem Leistungsbezug ausscheidet (die sog. Verbleibsquote), und nicht aus welchem Grund er/sie ausscheidet und ob er/sie wirklich eine Perspektive gefunden hat oder im Extremfall nur verstorben ist. Das führt zu vielfältigen Konflikten, etwa um die Finanzierung der psychosoziale Betreuung in Frauenhäusern, zu Leistungsablehnung bei Menschen, die nicht kurzfristige Arbeit aufnehmen können aber auch etwa zur Ablehnung von Schuldnerberatung bei Niedrigverdienern, weil sie (glücklicherweise ) noch nicht im Leistungsbezug stehen.

Unter solchen Umständen ist nicht mehr sicher zu stellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden ( § 2 Abs.2 SGB I). Aber auch hier gibt es noch eine weitere Unterebene: Auch die Behörden und ihre Mitarbeiter selbst stehen vor einer vergleichbaren Umstrukturierung, wie etwa die Arbeitsagentur und Jobcenter. Sie darum müssen darum wetteifern, wer die niedrigsten Leistungen erbringt, die wenigsten Neuzugänge und die meisten Abgänge hat. Wer da noch Bürgerrechte und Bedarfsdeckung anstrebt, ist der Verlierer dieses Wettbewerbs und wird in der Kommunalpolitik unter Druck gesetzt.

Und wozu das Ganze ?

1 d) Da geht es um die vierte Ebene, das sind die Arbeitsverhältnisse, die Frauen in viel größerer Zahl aufnehmen als früher. Kein Ehegatte kann ihnen mehr den Zugang zum Arbeitsmarkt verbieten, im Gegenteil, im Falle des Scheiterns der Ehe darf er sich heute sogar recht unelegant aus der Unterhaltsverpflichtung zurückziehen. (Was inzwischen zu einer großen Benachteiligung von Frauen führt, die sich in der Familie auf eine andere Arbeitsteilung als den Doppelverdienst eingelassen haben. Eine Entwicklung, die wiederum die Frauen oft indirekt mit unterstützen, die der Meinung sind, Emanzipation läge alleine in der Vollzeitbeschäftigung von Frauen. Anhängigkeit und Unabhängigkeit hängen jedoch nicht so sehr davon ab, woher das Geld zum Lebensunterhalt kommt, sondern welche Gestaltungs- und Übergangsmöglichkeiten die Frau dabei hat.)9

Am Arbeitsmarkt ist ein Abbau von Schutzrechten und Mitbestimmungsrechten gegenüber Arbeitgebern im Gange. Eine Abbau von Sicherheit und Gestaltungsmacht. Es wird ein Niedriglohnbereich etabliert zusammen mit einem Arbeitsmarkt für Leiharbeiter und Ausgründungen von Subunternehmen zum Zwecke der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen. Bei den übermäßig zunehmenden Befristungen sind Anbieter von öffentlichen und sozialen Dienstleistungen inzwischen führend.10

Diesen Arbeitsmarkt gab es zwar schon, aber dieser Markt wurde unter behördlichem Druck im Rahmen der neuen Zumutbarkeit in seinen unattraktivsten Segmenten verbreitert. Mit der verschärften Zumutbarkeit werden gerade die motivierten, qualifizierten Arbeitslosen bei der Durchsetzung ihrer Interessen am Arbeitsmarkt behindert. übernimmt man z.B. die ungünstige Leiharbeit, dann wird man bestraft und verdient er noch weniger als in anderen
Verhältnissen. Ein existenzsichernder Lohn in Deutschland für eine Person darf heute nicht mehr unter 8.50 Euro liegen. Wenn man durch Vollzeitarbeit für sich alleine sorgen will, dann ist das notwendig, um die Armutsgrenzen von ca. 930 Euro netto zu überschreiten – ohne Transferleistungen und ohne Kinder.

Andere Staaten tun sich damit nicht so schwer, wie etwa Großbritannien, Frankreich, Niederlande. Oder in Luxemburg: da sind es im Moment bereits über 10 Euro Stundenlohn – für Ungelernte. Und wer flexibel und unsicher beschäftigt ist, der würde wegen der Übernahme dieses Risikos eigentlich einen Zuschlag benötigen – wie den Prekaritätszuschlag in Frankreich – und keinen Abschlag.

Verkrustet, überreguliert, besitzstandsorientiert und strukturkonservativ ausgerichtet sei das Arbeitssystem der Bonner Republik gewesen, der Kündigungsschutz und die hohen Löhne – der starke Schutz der Insider des Arbeitmarkts habe zu Arbeitslosigkeit geführt, zum Verlust von Eigenverantwortung und Rentabilität geführt. Gedacht waren die Regelungen des Arbeits- und Sozialrechts aber keinesfalls, um Eigenverantwortung zu unterbinden, sondern um die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft bei der Durchsetzung ihrer Interessen zu unterstützen und vor Übervorteilung zu schützen und um ihnen zu helfen, dort eigenverantwortlich vorzusorgen, wo die Absicherung ihre Kräfte alleine übersteigen würde.

Das Arbeitsrecht und seine Regeln werden gegenwärtig systematisch unterlaufen und in Frage gestellt.

Was bedeutet das für Frauen?11

Die aktuelle Zunahme sozialversicherungspflichtiger Arbeitplätze ist gut, – aber für Frauen nur hilfreich, wenn sich das nicht nur in der Anzahl der Stellen, sondern auch in einem steigenden Arbeitsvolumen und der entsprechenden Entlohnung ausdrückt.

Umfassender gesehen auch in der Sicherheit des Arbeitsplatzes und den übrigen Arbeitsbedingungen. Wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind, dann ist die gerade gewonnen Autonomie schnell wieder zerronnen, dann bleiben die Gestaltungsmöglichkeiten gering und dann ist Armut programmiert und zwar sowohl mit Arbeit, als auch – abgeleitet daraus – bei Arbeitslosigkeit, in der Familie und im Alter.

Wenn „frau“ sich auf die klassische Frauenerwerbstätigkeit konzentriert – putzen, pflegen, betreuen, erziehen, im Hintergrund wirken und organisieren (die sog. „Caretätigkeiten“) -, dann sieht es selbst bei Vollzeittätigkeit schlecht aus. Dass es im August 2010 nach über zwei Jahren endlich gelungen ist, einen Mindestlohn in der Pflege bundesweit für allgemeinverbindlich zu erklären – es sind 8.50 Euro pro Stunde in unserem Bundesland-, das ist schon fast ein Wunder und nur der drohenden polnischen Konkurrenz zu verdanken gewesen. Dabei werden bei weitem noch nicht alle Belastungen dieser Berufe angemessen berücksichtigt und honoriert.

Das Hauptproblem liegt hier nicht im ungleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Hinter den strukturell zu niedrigen Lohnniveaus in frauendominierten Berufen steckt ein viel kompliziertes, gesellschaftliches Bewertungsproblem. Der Arbeitseinsatz und die Schwierigkeit der Tätigkeit wird notorisch zu niedrig gegenüber klassischen Männerberufen bewertet12 – selbst für die Männer, die sich in diese Berufe gelegentlich verirren. Das Modell der Zuverdienerin hat sich über die Jahrzehnte in Tarifverträgen und Arbeitsplatzbewertungen verfestigt und ist sehr schwer aufzubrechen.

Langsam beginnt das Problem aufzufallen und lässt sich leider nicht alleine damit lösen, dass man Frauen für Männerberufe begeistert. Ohne gewerkschaftliche Organisation und gezielte Aktivität zur Neubewertung dieser Tätigkeiten, wird der Ausweg hier sehr schwer.

Die Erzieherinnen sind im Jahr 2009 vorangegangen. Spät zwar, aber immerhin: es kam zu einem für ein derartiges Frauenarbeitsfeld eindrucksvollen Streik- etwas was die Republik bis dahin noch nicht gesehen hatte. Gelöst sind die Probleme in diesem Feld noch nicht, – im Gegenteil die Politik will die Einrichtungen für Kleinkinder ab dem ersten Lebensjahr zu einer Art Vorschule, Kinderschutz- Integrations- und Stadtteilzentrum gleichermaßen ausbauen, – natürlich wieder ohne diese Allzuständigkeit mit verbessertem Personalschlüssel und höherer Ausbildung ausgleichen zu wollen. Das „Kibiz“ war und ist als Finanzierungsgrundlage für derartige Dienstleistungen eine Zumutung. Aber die Erzieherinnen haben einen ermutigenden Einstand gegeben.13

Und gerade an den Stellungnahmen zu ihrem Streik, die darauf hinausliefen, sie sollten ihre Interessen gefälligst nicht auf dem Rücken der Familien und der armen Kinder durchsetzen, sieht man eines: Es besteht die Gefahr, dass sich hier ein Modell von „Frauen helfen Frauen“ einschleicht, das nichts mehr mit der früheren Bedeutung dieser Losung in der Frauenbewegung zu tun hat: unterbezahlte Pflegerinnen im Heim oder zu Hause, Putzfrauen oder eben Kinderbetreuerinnen sollen den wenigen Karrierefrauen den Rücken freihalten und die Familienarbeit preiswert übernehmen. – eine Lösung, die sich durchaus durchsetzen kann,14 wenn der Teil der Frauen, bei denen die Karriere klappt, den Rest der Geschlechtsgenossinnen für ihre persönlich Emanzipation einsetzt. Es besteht die Gefahr, dass die fortdauernde Abwertung der Familien- und Betreuungsarbeit zur Abwertung der dort entstehenden Arbeitsplätze führt, die wiederum bevorzugt Frauen treffen.

Das gilt auch für die Teilzeitarbeit. Sie ist sicherlich ein humaner Weg, Arbeitsleben und andere Verpflichtungen oder Neigungen miteinander zu verbinden. Aber in der Lebensphase zwischen 24 und 60 Jahren wird sie fast ausschließlich von Frauen genutzt und es gibt Hinweise darauf, dass der gegenwärtig behauptete Anstieg der rechnerischen Anzahl von Arbeitsplätzen fast nur durch die Teilzeitarbeit der Frauen getragen wird, während Vollzeitarbeitsverhältnisse in der gleichen Zeit stark zurückgegangen sind.

Abgesehen davon, dass es sich dabei meist um einen Karrierekiller handelt, führt das halbe Gehalt bei den meisten Fällen nicht aus der Armut und muss durch die unzureichenden Sozialleistungen und die damit verbundene Bevormundung ergänzt werde. Wenn auch noch, wie bei den überaus beliebten Minijobs, in denen Frauen im erwerbsfähigen Alter überproportional vertreten sind, weder ausreichende Stundenlöhne gezahlt, noch wenigsten anteilige Beiträge in die Sozialversicherung abgeführt werden, dann geht das zu weit. Die Konstruktion der Minijobs, die ja nicht völlig abgabenfrei sind, aber Netto-Ministundenlöhne ohne individuelle soziale Absicherung zulassen, muss grundlegend überarbeitet werden.

Zum Ende hin auch noch der Blick auf einen anderen Bestandteil des Aufschwunges. Nicht nur die sozialversicherungspflichtigen, wenn auch oft nur schlecht bezahlten und befristeten Tätigkeiten werden da mitgezählt, sondern auch die wachsende Zahl der Selbstständigen – ohne zwischen der frei gewählten und unternehmerisch ausgerichteten Selbstständigkeit und der erzwungenen Selbstständigkeit, die nur mangels anderer Erwerbsalternativen gewählt wird (auch Scheinselbstständigkeit genannt) zu unterscheiden. Und auch hier gibt es für Frauenberufe ein Signal, sich nicht auf oberflächliche Statistiken zu verlassen.

So wurde jahrelang die Mehrzahl der Hebammen in die Freiberuflichkeit gedrängt und fühlte sich gegenüber den staatlichen Krankenkassen in Verhandlungen schon länger als Freiwild… Das zu versteuernde Jahreseinkommen dieser Selbständigen lag nach einer Untersuchung von 2007/2008 bei 14.000 Euro pro Jahr = 1.180 Euro pro Monat – und das bei vollem unternehmerischem Risiko. Umgerechnet entspricht das einem durchschnittlichen Stundenlohn von 7.50 Euro. Als die Haftpflichtprämie dann auch noch auf 2.370 Euro pro Jahr angehoben wurde – da haben sie endlich reagiert, aber zu spät. Sie werden in größeren Krankenhäusern nicht mehr als individuelle Begleitung, sondern nur noch als Massenversorgung eingesetzt und sollen jetzt als Familienhebammen die Kontrolle von Problemfamilien übernehmen.

Selbstständigkeit ist kein Freibrief für Selbstausbeutung – das gilt gerade auch für Frauen, die hier Verhandlungsmacht aufbauen müssen – vor allem gegenüber staatlichen Kostenträgern aller Art. Benötigt wird auch hier Basisschutz. Und wenn man am Existenzminimum lebt, ist ergänzende Unterstützung nötig. Aber eine andere als heute, wo der Gesetzgeber mit den Regeln zur Einkommensanrechnung im SGB II den Jobcentern eine Art Lizenz zur Gängelung der Freiberufler/innen gegeben hat.15

Im Moment ist zu beobachten, dass man den Tagesmüttern ähnliche Unsicherheiten aufbürden will, die die nicht ausgebauten Kindertagestätten kompensieren sollen.

2.) Ausblick

Die beschriebenen Entwicklungen sind nicht zwingend und können auch unter Beachtung der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen in andere Richtung gelenkt werden. Auf allen Ebenen kann umgesteuert werden, aber da müssen sich Frauen mehr engagieren Was die erste Ebene angeht, so muss das Recht auf bedarfsdeckende existenzsichernde Leistungen erhalten bleiben.

Auf der zweiten Ebene müssen soziale Bürgerrechte gewahrt bleiben.
Das bedeutet: Wahl und Suchmöglichkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt zu leistungsgerechten Vertragsbedingung erhalten und fördern, unabhängige Beratungs- und Hilfeangebote mit Vertrauens- und Datenschutz aufbauen, Beschwerdemöglichkeiten ausbauen. Veränderung bei der Zumutbarkeit, Einschränkung der Sanktionstatbestände. Bei der Beschäftigungsförderung sind Freiwilligkeit, Wunsch und Wahlrecht und Mitwirkungsrechte der Bedürftigen zu achten. Frauen nach der Familienphase benötigen Rückkehrförderung mit Vorrang von Ausbildung und echter Fortbildung mit anerkannten Abschlüssen.

Auf der dritten Ebene steht eine Neuordnung der Vergabekriterien bei sozialen Dienstleistungen an.
Die Achtung vor der Selbständigkeit der sozialen Träger und Bildungsträger, seriöse Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte. Keine einseitige Ausrichtung von Beratung an möglichst schneller Arbeitsaufnahme um jeden Preis.

Auf der vierten Ebene geht es um die Festschreibung von eindeutigen, existenzsichernden Mindestarbeitsbedingungen, wieder mehr unbefristete Arbeitsverhältnisse, die Abschaffung der Minijobs und faire Bedingungen für Selbstständige.

Der beste Ausweg aus all den geschilderten Entwicklungen liegt gerade auch für Frauen in einer soliden Arbeitsplatzstruktur vor allem auch bei öffentlichen, sozialen und Bildungs-Dienstleistungen. Aufhören muss in diesem Bereich der Einsatz von Ein-Euro–Jobber/innen, Minijobberinnen u.a., das Ausgliedern auf unterbezahlte Honorarkräfte und das Lohndumping in sozialen Diensten.

Man wagt es kaum noch vorzuschlagen, aber man kann auch Arbeitsplätze für Putzfrauen und Pflegekräfte, Kinderbetreuung und Helferberufe als reguläre Arbeitsverhältnisse ausgestalten! Würde man etwa dem Vorbild der skandinavischen Länder folgen,16 dann ergäbe sich die Senkung der Arbeitslosenzahlen als Nebeneffekt und würde begleitet vom Aufbau regulärer Beschäftigung. Dies muss verbunden werden mit der Neubewertung klassischer Frauenberufe, was auch Folgen für die Regulierung der Finanzströme im föderalen Staat haben muss, sprich: die Kranken- und Pflegeversicherung, aber vor allem die Kommunen benötigen dafür- aber wirklich dafür und nicht für irgendwelche waghalsigen Großprojekte und Spekulationsgeschäfte wie Cross Border Leasing – mehr Geld.


1 Zum Folgenden s. auch Spindler H. „Der sozialpolitische Konsens wird aufgekündigt“ Die Steuerungstechniken des aktivierenden Sozialstaats und die Durchsetzung sozialer Rechte. In: Soziale Psychiatrie, Heft 3, Juli 2008.

2 Zuletzt Spindler H.: Verfassungsrecht trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen ? info also 6/2011, S. 243-247.

3 Spindler H.: Sechs Jahre Ringen um das Existenzminimum- und kein Ende. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.Februar.2010 in: info also Heft 2, S. 51-55.

4 Nachweise bei Spindler H.: Fördern und Fordern – Auswirkungen einer sozialpolitischen Strategie auf Bürgerrechte, Autonomie und Menschenwürde, in: Sozialer Fortschritt 2003, Heft 11-12, S. 296 ff;
und: Arbeit statt Stütze ? Ein fachpolitisches Streitgespräch der bag arbeit in Kooperation mit der LAG Arbeit NRW e.V. am 23. November 2000 in Köln , 2001 S.44 (Dokumentation auf meiner Homepage).

5 Vergl. Besprechung: Zur Lage der Kinder in Deutschland 2011/2012: Starke Kinder – starke Eltern (Deutsches Komitee der UNICEF) in: Forum sozial 1/2012, S. 56-57.

6 M. Feil/J. Wiemers, Teure Vorschläge mit erheblichen Nebenwirkungen, IAB Kurzbericht 11/2008.

7 Bertelsmann Stiftung u.a. (Hrsg.) : Handbuch Beratung und Integration. Fördern und Fordern – Eingliederungsstrategien in der Beschäftigungsförderung. Gütersloh, 2002 S.17.

8 Dokumentation von Fällen etwa auf der Seite www.sanktionsmoratorium.de

9 Spindler H., Abhängig oder unabhängig ? Ansprüche auf Fürsorgeleistungen nach dem SGB II, eheliche Unterhaltsleistungen und Erwerbseinkommen und ihre geschlechtsspezifische Wirkung, in: Kirsten Scheiwe (Hrsg) Soziale Sicherungsmodelle revisited. Existenzsicherung durch Sozial- und Familienrecht und ihre Geschlechterdimensionen, S. 85-94, Nomos 2007.

10 teilweise schon über 70 %. Hohendanner Christian: Unsichere Zeiten, unsichere Verträge? IAB Kurzbericht14/2010.

11 ausführlich zum Folgenden: Spindler H. Programmierte Frauenarmut, Vortrag bei der Veranstaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen: „Aufschwung auch für Frauen ?“ am 18.11.2010 in Düsseldorf, Manuskript online verfügbar.

12 Dazu instruktiv: Krell G./ Winter R. Anforderungsabhängige Entgeltdifferenzierung: Orientierungshilfen auf dem Weg zu einer diskriminierungsfreieren Arbeitsbewertung in: Krell Gertraude (Hrg): Chancengleichheit durch Personalpolitik, 4.Aufl. 2004 S. 309-330.
Als Einstiegsinformation: BMFSFJ 2008: „Fair P(l)ay-Entgeltgleichheit für Frauen und Männer“ Leitfaden zur Durchsetzung des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher und gleichwertiger Arbeit.

13 Für sie gibt es seitdem einen Tariflohn, der bei 2.040 Euro beginnt und im besten Fall am Ende des Berufslebens auf 2.800 Euro steigt – wenn man es denn erlebt, denn auch in diesem Beruf führen Arbeitsbelastungen dazu, dass viele früher ausscheiden. Bei der Kinderpflegerin sind es 1.750 bis 2.300 Euro. Vergl. auch: Fuchs-Rechlin K.: Die berufliche, familiäre und ökonomische Situation von Erzieherinnen und Kinderpflegerinnen, Sonderauswertung 2008, für die Max- Traeger Stiftung der GEW.

14 Spindler H., Abhängig oder unabhängig ? … siehe Anm. 9

15 § 3 Alg-II VO. Zur Erläuterung der komplizierten Anrechnung seit 2008 vergl. etwa Arbeitslosenprojekt TuWas, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, Fachhochschulverlag Frankfurt Kapitel H 2.

16 Heintze Cornelia: Der Staat als Arbeitgeber im skandinavisch-deutschen Vergleich. In: Berliner Debatte Initial 18 (2007) 3 S. 79 ff. und mit einer deutlichen Parallele zum (weiblichen) Krankheitsbild der Magersucht, diess.: Der aufhaltbare Abstieg in die polarisierte Ungleichheitsgesellschaft – Deutschlands magersüchtiger Staat und die skandinavische Alternative 2008 (Online Fassung).