TuBF Statement zu Gewalt gegenüber Frauen an Silvester 2015
2016Als Frauen, deren Anliegen es ist, die Autonomie und das Handlungspotential von Frauen zu unterstützen, sind wir entsetzt über die Übergriffe an Frauen, die in der Silvesternacht in mehreren Städten stattgefunden haben.
Unsere Solidarität gilt all jenen, die in ihrer körperlichen und sexuellen Integrität verletzt wurden. Sie gilt auch allen, die jetzt Angst haben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.
Wir verteidigen das Recht von Frauen, sich angstfrei durch unsere Straßen und Bahnhöfe zu bewegen. Auch nachts. Auch in Menschenmengen.
Denn eines ist klar: Gewalt an Frauen im öffentlichen Raum hat nicht „nur“ Auswirkungen auf die betroffenen Frauen, sondern auf alle Frauen, die sich jetzt öfter nicht sicher fühlen. Vor allem, da unsere Gesetzgebung kaum Handhabe bietet, sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum zu sanktionieren.
Deshalb unterstützen wir es, wenn Schutzlücken im Strafrecht im Bezug auf sexualisierte Gewalt geschlossen werden sollen.1
Gleichzeitig beunruhigt uns: Wir wissen noch nicht, was an Silvester wirklich geschah.
Haben wir es mit der bundesdeutschen Normalität zu tun, dass die Verbindung von Männerhorden + Alkohol immer eine große Gefahr für Frauen darstellt?
Oder gibt es eine neue Qualität von organisierterter Gewalt, die sich explizit gegen Frauen richtet (oder ging es darum, die sexuellen Übergriffe als Klaustrategie nutzen)? Das wäre von Erkenntnisinteresse, aber welche unabhängigen Journalist_innen haben welche Ressourcen und Interessen, ergebnisoffen zu
recherchieren?
Was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass sich gerade ein gesellschaftlicher Diskurs entwickelt, in dem es unwichtig zu sein scheint, dass bisher kaum Fakten über die Vorfälle verlässlich sind.
Obwohl die Ermittlungen noch am Anfang stehen, hat sich in rasender Geschwindigkeit eine Debatte entwickelt, in der Vermutungen und Vorurteile dominieren und, was uns besonders verärgert, in der Frauen mit ihren Bedürfnisse und Stimmen kaum eine Rolle spielen.
Rechte Gruppen versuchen jetzt verstärkt Gewalt gegen Frauen für rassistische Propaganda und Gesetzgebung zu vereinnahmen. Linke Gruppe erwarten zum Teil, dass Frauen die Wichtigkeit der Übergriffe herunterspielen, um dem entgegenzuwirken.
So marschierten am 09.01.2015 Pegida, Pro NRW und HoGeSa unter dem Motto „Pegida schützt“ durch Köln, während der Flashmob gegen Gewalt gegen Frauen auf dem Weg zur parallel verlaufenden Antifa-Kundgebung den eigen Inhalt der linken Männermehrheit anpasste.
Das macht uns wütend.
Denn wenn rechte Gruppen, die sonst gegen Frauenrechte mobil machen, auf einmal unter dem Motto „Pegida schützt“ zur Demo aufrufen –
Wenn Pro Köln beim Womens Walk vom 17.01.2016 die Rednerinnen als „Scheißfeministinnen“ beschimpft und gleichzeitig vorgibt, für den Schutz von Frauen zu stehen –
Wenn die CDU jetzt im Bezug auf Vergewaltigungen auf einmal eine Gesetzesänderung fordert, die sie bisher blockiert hat –
Wenn jetzt eifrig analysiert wird, was es denn an der arabischen Kultur sei, das Übergriffe auf Frauen zu legitimieren scheint –
Wenn dieselben Menschen sich aber nicht dafür interessieren, was es denn an der deutschen Kultur sei, das jährlich über 7000 angezeigte Vergewaltigungen und Nötigungen2 durch Männer möglich macht –
Dann scheint es uns, es geht hier nicht darum, dass an Silvester Gewalt gegen Frauen verübt wurde, sondern darum, wer sie ausgeübt hat.
Wenn bei den Tätern ein arabischer oder nordafrikanischer Hintergrund vermutet wird, bringt das anscheinend eine ganze Reihe weißer deutscher Männer aus den rechts-konservativen politischen Lagern auf die Straße, die sich zu Übergriffen von Deutschen auf Frauen sonst ausschweigen. Dann sind Gesetzesänderungen auf einmal sinnvoll und möglich.
Da müssen wir doch die Frage stellen: Geht es hier um den Schutz von Frauen, oder um Hoheits – und Besitzansprüche deutscher Männer?
Wenn sich Politiker_innen und Journalist_innen dann auch noch weit mehr dafür zu interessieren scheinen, ob und wann man Flüchtlinge abschieben sollte, als darum, wie sie Frauen ein Gefühl von Solidarität, Sicherheit und Rückhalt vermitteln können –
Wenn die Tagesschau von rechten und linken Demonstranten am 09.01.2016 in Köln spricht, aber völlig unerwähnt lässt, dass die Domtreppen voll waren mit Frauen und Männern, die explizit gegen Gewalt gegen Frauen demonstrierten –
Wenn in keiner einzigen Nachrichtensendung Informationen darüber vermittelt werden, wo betroffene Frauen wirkliche Unterstützung und Hilfe finden –
– dann entsteht bei uns der Eindruck: Um Frauen und ihre Rechte und Bedürfnisse geht es hier gar nicht.
Vielmehr passiert hier gerade das, was in der Geschichte immer und immer wieder passiert ist: Frauen werden nicht als Menschen gesehen sondern als Symbole, Schlachtfelder und Besitzobjekte behandelt um männliche Machtansprüche zu legitimieren.
Das hat in der europäischen Kultur eine lange Tradition. Schon im antiken Griechenland sah niemand einen Widerspruch darin, Frauen fast alle Selbstbestimmungsrechte zu entziehen, und die Freiheitsberaubung der schönen Helena durch den „Ausländer“ Paris gleichzeitig zum Anlass für den trojanischen Krieg zu nehmen. Auch in jüngster Vergangenheit wurden die Kriege in Bosnien und Afghanistan ebenfalls unter dem Label der Verteidigung von Frauenrechten zu rechtfertigen versucht.
Frauen interessieren hier als Argumente, als Bilder, als Metaphern. Nicht als Menschen.
Das macht deutlich, dass die Täter der Silvesternacht und die Männer, die Frauen als Propagandamittel sehen, die sich erst für Sexualstraftaten interessieren, wenn sie von „Nordafrikanern“ begangen werden, den gleichen, menschenverachtenden Blick auf Frauen teilen. Dasselbe gilt auch für die Gruppe derer, die sexualisierte Gewalt stillschweigend legitimieren indem sie die Verantwortung Frauen zuschieben.
Dagegen stehen wir auf, dagegen sagen wir: NEIN. Wir lassen uns nicht für Propaganda benutzen und wir lassen uns nicht von der Straße vertreiben.
1 Siehe auch:
http://www.legal-gender-studies.de/sexuelle-uebergriffe-im-oeffentlichen-raum-rechtslage-und-reformbedarf
2 umfassende Infos: https://www.frauen-gegen-gewalt.de/infothek.html