Transparent Feminism

TuBF Erklärung zum „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ 25. 11. 2014

2014

Warum gibt es Gewalt gegenüber Frauen*?
Wenn wir mehr verstehen wollen, können wir unterscheiden zwischen Gewaltsituationen, Machtverhältnissen und Herrschaftsverhältnissen.

Gewalt gegen Frauen ist in den Beratungen und Therapien in der TuBF ein zentrales Thema. Warum gibt es Gewalt gegenüber Frauen?

Halten wir zunächst einmal fest, dass potentielle und reale Gewaltausübung von Menschen gegenüber anderen Menschen ein Teil menschlicher Realität ist. Deshalb hat sich in Bezug auf die Gewaltfrage in modernen westlichen Gesellschaften der Grundsatz entwickelt, dass Gewalt nur vom Staat ausgehen darf, dass also der Staat über seine Institutionen Parlament, Polizei, Gerich-te das alleinige (demokratisch kontrollierte) Gewaltmonopol innehat. Quasi im Gegenzug ist es dann Aufgabe des Staates, Gewalt innerhalb der Gesellschaft zu kontrollieren und zu sanktionieren.

Was da so einfach klingt, und was in entsprechenden Gesetzestexten möglichst eindeutig formu-liert werden muss, sind tatsächlich recht knifflige Angelegenheiten. Was als Gewalt gilt, wieviel und welche Formen von Gewalt wem und in welchem Rahmen zumutbar sind, welche Art der Gewaltausübung wie sanktioniert wird … das sind Ergebnis hochkomplexer gesellschaftlicher Definitions- und Aushandlungsprozesse. Und hier stellt sich die Frage, was es mit der geschlechtsspezifischen Gewalt auf sich hat, der Anlass für einen „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ geworden ist.

In den letzten Jahren wird dieser Tag zunehmend auf die häusliche oder sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen bezogen. Der eigentliche Anlass jedoch war ein anderer: 1981 wurde der Tag von lateinamerikanischen und karibischen Frauen ausgerufen. Er bezieht sich auf den 25.11.1960, dem Tag, an dem drei Widerstandskämpferinnen, die Schwestern Mirabal, in der Dominikanischen Republik ermordet wurden. Die drei Schwestern gelten bis heute als Zeichen für den Widerstand gegen Diktatur.

Der Anlass, diesen Tag jährlich zu begehen, war also ein Akt der politisch motivierten Gewalt gegen Frauen. 1999 verabschiedet dann die UN-Generalversammlung eine Resolution, nach der der 25. November zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen bestimmt wurde.
Die Zahlen, die vielfältige Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt belegen, sind heutzutage leicht und umfassend nachlesbar. In Film- und Fernsehen ist diese Gewalt schon lange kein Tabu und die digitalisierte und vernetzte Welt hat unterschiedliche neue Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen (und andere Menschen) hervorgebracht.

Wenn wir nun den Gewaltbegriff so weit fassen, dass er strukturelle Gewalt mit erfasst,1 dann ist Folgendes sorgfältig zu unterscheiden: Wenn wir von Gewaltsituationen sprechen, haben wir es mit TäterInnen und Opfern zu tun. Sprechen wir von Machtverhältnissen, dann haben wir es mit einem komplexen, vielschichtigen System der Regelungen und Übereinkünfte des Zusammenlebens zu tun, wo Macht und Autoritäten gegenseitig geduldet, legitimiert und getragen sind. Hier greift die einfache Polarität in Opfer / TäterIn nicht, sondern hier müssen differenzier-tere Analysen von Verantwortung Raum bekommen. Wenn wir jedoch von Herrschaftsver-hältnissen sprechen, haben wir es mit gewaltvoll durchgesetzten eindeutigen Interessen auf der Seite der Herrschaftsausübung zu tun. Ein solches gewaltherrschaftliches System ist nicht auf die Zustimmung einer Mehrheit oder einer Interessengemeinschaft angewiesen, solange es über entsprechende Gewaltmittel verfügt.2

Sprechen wir also von Gewalt gegenüber Frauen , müssen wir differenzieren, worum es gerade geht; auch wenn es darauf nicht immer einfache Antworten gibt. Und wenn wir von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen sprechen, meinen wir alle Gewaltformen, die aus der Missachtung, Herabwürdigung, Verachtung und Abwertung von Frauen heraus entstehen. Und das besondere an dieser Gewaltausübung ist nicht ihre Anzahl, Schwere oder eine vermeintlich beson-dere Verletzbarkeit von Frauen, sondern das Besondere an der Gewaltausübung gegenüber Frauen ist die fehlende normative Begrenzung, die Sanktionsfreiheit von Tätern (Mittäterinnen, Täterinnen). Gewaltausübung, die nicht wahrgenommen, die toleriert und nicht geächtet wird, ist ein Erfolgsmodell.

Betrachten wir Gewalt als ein Phänomen, dem wir uns jederzeit stellen müssen, dann hat die menschliche Schutzbedürftigkeit einen hohen Wert. Um hier nicht einer geschlechtsrollenstereotypen Versuchung zu unterliegen, täten wir gut daran, die Schutzbedürftigkeit aller menschlichen Wesen zu realisieren. Wenn mehr Männer die Verletzbarkeit von Menschen als eine Bedingung des Zusammenlebens akzeptieren könnten, wären wir schon einen Schritt weiter. Menschen sind im Zusammenleben aufeinander angewiesen, aufeinander bezogen.

Diese wesentliche menschliche Fähigkeit ist eine soziale Fähigkeit, die gelernt wird. Sie wird gelernt von den Menschen, mit denen wir uns verbunden fühlen. Von frühen Bezugspersonen, Müttern, heute immer öfter auch Vätern, allen wichtigen, feinfühligen Erwachsenen, ErzieherInnen, PädagogInnen, manchmal erst TherapeutInnen.

Die Bindungsforschung bestätigt diese wichtige Aufgabe. Für das soziale Miteinander ist die Fähigkeit, zu spüren, wenn ich einem Anderen Schmerz zufüge, grundlegend. Wenn wir diesem sozialen Aspekt gesellschaftlichen Wert verleihen, müssen wir uns fragen, wie die Bedingungen sein müssten, in denen Mitgefühl, gegenseitige Verantwortung und Respekt und eine Kultur des Trostes entstehen und wachsen können – für Männer und Frauen.

Als psychosoziale Frauenberatungsstelle stellen wir fest, dass pädagogisch-psychologisches Wissen hilfreich sein kann. Je mehr wir wissen, desto klarer wird eben auch: Es kann keine perfekten unfehlbaren oder ausschließlich guten Mütter, Väter, Familien und Erziehungsinstitutionen geben. Und es gibt überforderte, gewalttätige, gleichgültige und sadistische Bezugspersonen. Ebenso, wie es sowohl unterstützende als auch prekäre Lebensumstände gibt. Leben und Aufwachsen erfordert immer verschiedene Anpassungs- oder Überlebensmuster und jeder Mensch muss als Erwachsener eine Haltung zu diesen Erfahrungen finden.

Je mehr Raum und Ressourcen eine Gesellschaft bereitstellt für Entfaltung und Lernen, für soziale (Ver-) Bindungen, für unterstützende Freundes- (und Familien-)strukturen, für sinnvolle und erfüllende Arbeitsmöglichkeiten, für politische Freiheiten und für Möglichkeiten zu solidarischer Verantwortung, umso eher kann jedeR Einzelne soziale zwischenmenschliche Fähigkeiten entwickeln und nutzen und desto geringer ist die Gefahr, dass individuelle Anpassungsnormen destruktiven Charakter entfalten.

Die gesellschaftliche Übereinkunft, dem Staat gewaltverhindernde und gewaltvolle Rechte und Pflichten einzuräumen, bedeutet nun nicht, als gesellschaftlich und sozial verbundene Individu-en auf wirksames Handeln zu verzichten, sondern vielmehr verantwortungsvoll und mutig tätig zu werden. Die Frauenberatungsstelle ist ein Teil in diesem gesellschaftlichen Prozess, der dem Aspekt der Achtung gegenüber Frauen und der Freiheit von Frauen ihre besondere Aufmerksamkeit und politisches Augenmerk schenkt und professionelle Unterstützung für Frauen anbietet. Wir befassen uns also mit den Folgen gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse, nicht nur bei frauenspezifischer Gewalt, sondern auch in ihrer Verschränkung mit Unrechtser-fahrungen, Rassismus, Ausbeutung und den Folgen einer unmenschlichen staatlichen Flücht-lingspolitik.


Oktober 2014
©Marita Blauth


1 Wie z.B. in der Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt 2011; www.bit.ly/2J7SFt3

2 Diese Unterscheidungen sind inspiriert durch verschiedene Texte, u.a. von Christina Thürmer Rohr