Tisch mit Stuhl

Familie – Bindung – Gewalt

2016

Die Erklärungsmuster, warum Frauen* sich nicht von einem gewalttätigen Beziehungspartner trennen, sondern alles tun (sollen), um das System Familie aufrechtzuerhalten, sind vielfältig. Das System Ehe und Familie ist neben seinem rechtlichen Rahmen auch ein mächtiges symbolisches System.

Der Erfahrungsaustausch in unserem AK „Kritischer Opferdiskurs“ hat eine ungute Praxis im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt deutlich gemacht. In Rechtsprechung, Gutachterverfahren und Umgangsregelungen wird ein gemeinsames Sorgerecht auch bei gewalttätigen Elternteilen (meist Vätern) oder Umgangsrecht des gewalttätigen Elternteils (oft gegen den Willen der Mutter) mit der Begründung erwirkt, dass Kinder eine Bindung an beide Elternteile wünschen und brauchen. Dieses Argument machen sich sowohl betroffene Frauen als auch das Hilfesystem nicht selten zu Eigen, um gewalttätige Verhältnisse nicht zu beenden bzw. nicht intervenieren zu müssen oder Täterkontakt nicht zu unterbinden. Hier wirken Bilder romantischer Liebes-, Familien- und Geschlechtsrollen- Ideale mit einer traditionellen Rechtsprechung auf oft zerstörerische Weise zusammen. Wir möchten aus diesem Anlass zu einer kritischen Reflektion zum Thema einladen.

Warum Frauen bleiben

Die Erklärungsmuster, warum Frauen sich nicht von einem gewalttätigen Beziehungspartner trennen, sondern alles tun (sollen), um das System Familie aufrechtzuerhalten, sind vielfältig.

Manchmal bleiben Frauen aus Angst vor dem Partner, wenn er ihr bei Trennung mit dem Tode droht.

In einer Gesellschaft, in der das System der Paarbeziehung und Kleinfamilie die hauptsächliche Form der zwischenmenschlichen nahen und anerkannten Beziehungspflege ist, kann jedoch jede Trennung ein Verlust sein und beängstigend, auch wenn es die Trennung aus einer gewalttätigen Beziehung ist. Und da, wo Besitz- und Einkommensverhältnisse überwiegend geschlechtshierarchisch strukturiert sind, ist eine Trennung für Frauen mit einem sozialen Abstieg verbunden. 

Es scheint – auch in gewalttätigen Beziehungen – viele Gründe zu geben, zu bleiben. Zu verharren. Zu hoffen. Zu resignieren.

Das System Ehe und Familie ist neben seinem rechtlichen Rahmen auch ein mächtiges symbolisches System, das dem Individuum emotionale Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung zu geben vermag. Aus einem solchen System auszusteigen erfordert eine Konfliktbereitschaft, die gerade nach andauernder Erniedrigung, Herabwürdigung und massiver Gewalt immer schwerer aufzubringen ist. Frauen brauchen in solchen Situationen alle Unterstützung, die möglich ist. Sie brauchen vor allem Unterstützung von außen, wenn Kinder beteiligt sind. Vor allem, wenn die Kinder nicht selbst von körperlichen Übergriffen betroffen sind, wird der Schaden, den Kinder nehmen, unterschätzt.

Manchmal werden Frauen sogar mit dem Argument, die Kinder wären auf die Bindung an die Eltern existentiell angewiesen, dazu angehalten, die Trennung aufzuschieben. Auf diese Weise wird eine Situation geschaffen, die für alle Beteiligten gefährlich ist. Der gewalttätige Partner bekommt nicht die Chance, sich mit den Konsequenzen seines Verhaltens auseinandersetzen zu müssen und ein deutliches Signal zu erhalten, die Gewalt nicht fortführen zu dürfen. Die gewalterleidende und duldende Partnerin wird in der Gewaltspirale immer schwächer und handlungsunfähiger, so dass sie nicht adäquat für ihre eigene Sicherheit und die ihrer Kinder sorgen kann. Die Kinder erleben einen Vater, dem es erlaubt wird, eine Frau zu schlagen und zu erniedrigen und sie erleben eine Mutter, die Gewalt gegenüber einer Frau als legitime Normalität vorlebt. Und das Traumatisierungspotential durch die hilflose Beobachtung von Gewalt ist nach psychotraumatologischen Erkenntnissen höher als das der selbst erlebten Gewalt.

Bindung- Was ist das?

Schauen wir uns die Bindungstheorie etwas genauer an.

Die Säuglingsforschung hat die wichtige Bedeutung der emotionalen Bindung an Bezugspersonen bestätigt.

„Die ‚emotionale Bindung’ eines Menschen an eine Bindungsperson ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ein zwar unsichtbares, aber fühlbares emotionales Band ist, das eine Person zu einer anderen Person anknüpft und das diese zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet. Diese Bindung ist für das Überleben eines Menschen so grundlegend wie etwa die Luft zum Atmen, Ernährung, Schlaf.“1 Das schreibt Karlheinz Brisch, der viel zu Bindungstheorien geforscht hat und SAFE®, ein Trainingsprogramm zur Förderung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kindern entwickelt hat.

Er beschreibt verschiedene Bindungsstile, um Bindungsqualitäten und Störungen im Bindungsverhalten zu verstehen und behandeln zu können.

Er stellt fest, dass für Kinder Trennungen ähnlich beängstigend sind wie innere oder äußere Bedrohung und Gefahr. Bindung ist nicht von der genetischen Verwandtschaft  abhängig, sondern von der feinfühligen Interaktion der Bezugsperson. Dabei geht es darum, physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst,…), psychische Bedürfnisse (emotionale Antworten, Anregung, Beruhigung, Entängstigung,…) sowie soziale Bedürfnisse (Leben in sozialen Gemeinschaften,…) wahrzunehmen und sie ohne Verzerrungen durch eigene Bedürfnisse und Wünsche richtig zu interpretieren und entsprechend dem Alter angemessen zu beantworten.

Wenn dieses feinfühlige Zusammenspiel gelingt, haben Kinder eine sichere Bindung, die es ihnen ermöglicht mit Mut und Neugierde die Welt zu erkunden. Gelingt dies nicht, bleibt eine Beunruhigung, die den sicheren Weltbezug erschwert. Und natürlich gibt es einen intergenerationalen Zusammenhang von Bindungserfahrungen, haben bindungssichere Eltern größere Kapazitäten, den eigenen Kindern eine sichere Bindung zu ermöglichen.

Besonders gravierende Einschränkungen im Bindungsverhalten haben Kinder, die misshandelt werden und Kinder, deren Eltern oder Bezugsperson selbst traumatisiert ist. Die damit einhergehende Atmosphäre von Angst, innerer Abwesenheit oder permanenter Aufmerksamkeit, verursacht eine Ängstigung und Anspannung, die sich nicht mehr beruhigen kann, solange diese Realität nicht beendet wird.

Wird ein Elternteil vom anderen Elternteil dauerhaft schlecht behandelt und geschlagen, verliert der misshandelte Part, meistens die Mutter, ihre Kapazitäten zur feinfühligen Interaktion mit dem Kind, denn sie ist viel zu sehr mit ihren eigenen Mechanismen des Überlebens beschäftigt. Der gewalttätige Vater ist in der Regel auch in seinem eigenen gewaltvollen Überlebensfilm oder ohne jeden Willen oder Sensibilität, sich dem verletzbaren Menschen hilfreich zuzuwenden. Ein Kind, das solche Verhältnisse über längere Zeit erlebt hat, braucht manchmal psychotherapeutische, traumatherapeutische Unterstützung, die langfristig stabilisierend nur ohne Täterkontakt wirksam ist.

Wenn Frauen sich vom gewalttätigen Partner trennen, ist es leider heute üblich, dem Vater einen begleiteten Umgang zu ermöglichen. Brisch schreibt dazu:

„Die Begleitung des Umgangs gibt keine emotionale Sicherheit, da in der Regel die Besuchsbegleiterin ein für das Kind fremde Person ist, mit der keine emotionale Sicherheit besteht, sodass diese Person das aktivierte Bindungssystem des Kindes nicht beruhigen kann.

Wenn die Partnerschaftskonflikte eindeutig dadurch gekennzeichnet sind, dass ein Elternteil gegenüber dem anderen sich gewalttätig verhielt und damit den Partner bedrohte und ihm Angst machte, erlebt dies auch das Kind als bedrohlich. Werden Kinder Zeuge von Gewalt zwischen den Bindungspersonen, so wird dies von den Kindern so erlebt, als ob sie selbst angegriffen worden wären, da durch die Identifikation mit dem angegriffenen Elternteil das Stresssystem des Kindes intensiv mitreagiert, fürchtet das Kind doch oft um Leib und Leben einer Bindungsperson, die – angegriffen – nicht mehr für Schutz und Sicherheit des Kindes zur Verfügung steht. Auch der Angreifer ist kein „sicherer emotionaler Hafen“ mehr für das Kind, sodass das Kind bei einer solchen Konstellation auch große Angst im freien Umgang zwischen beiden Elternteilen erlebt, sein Bindungssystem also keine Beruhigung erfährt. Der freie Umgang des Kindes mit einem gewalttätigen Elternteil – selbst wenn dieser nie Gewalt gegen das Kind selbst ausgeübt hat, sondern immer nur gegen den anderen Elternteil – ist für das Kind eine sehr angstvolle Situation, da sich das Kind in Identifikation mit der angegriffenen Bindungsperson selbst vor dem gewalttätigen Elternteil sehr fürchtet. Oftmals haben die Kinder große Schuldgefühle, weil sie denken, dass sie selbst die Ursache für die gewalttätigen Eskalationen zwischen den Eltern gewesen seien und dass sie den einen Elternteil besser vor den Angriffen des anderen Elternteils hätten schützen müssen.“

Auch wenn für Kinder eine Trennung von der Bezugsperson die größte Angst ausmacht und sie deshalb auch gegenüber gewalttätigen Vätern oder Müttern eine enge Bindung haben, gefährdet diese Art der (pathologischen) Bindung ganz gravierend die körperliche, emotionale und soziale Entwicklung des Kindes. Das scheinen viele RichterInnen nicht zu wissen.

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“

Diese Aussage gilt als afrikanisches Sprichwort und wir finden sie sehr passend um deutlich zu machen, dass Erziehung nicht nur eine Aufgabe von nahen Bindungspersonen ist, sondern auch die Verantwortung eines sozialen Systems braucht.

Was dafür heute nötig wäre ist folgendes:

  • Menschen – und vor allem Kinder – sollten die Chance haben, ohne Täter-innenkontakt eigene oder beobachtete Gewalterfahrungen zu verarbeiten und damit ein einigermaßen stabiles und vielfältiges (Erwachsenen-) Leben führen zu können. Das bedeutet, dass Frauen unterstützt werden, gewalttätige Partner_innen zu verlassen und eine andere Lebensperspektive entwickeln zu können. Das bedeutet auch, dass das Kindeswohl sich nicht ausschließlich an dem Willen kleiner Kinder orientieren darf, wenn es sich um eine Bindung an einen gewalttätigen Elternteil handelt.
  • Richter_innen, Jugendamtsmitarbeiter_innen, Verfahrenspfleger_innen, und andere Beteiligte an Kindeswohlentscheidungen brauchen Schulungen zum Thema, sowohl was Bindungstheorien wirklich betrifft, als auch was frauenrechtlichen Belangen entspricht.

Zu letzterem ein Beispiel relevanter Rechtsprechung: „In einer aktuellen Entscheidung vom 18. Juli 2014 hat der Ausschuss zur UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) eine Verletzung der Konvention durch Spanien festgestellt. Der CEDAW-Ausschuss kritisierte die Praxis der spanischen Behörden und Gerichte, die eine stereotype und damit diskriminierende Betrachtung des Umgangsrechts im Kontext häuslicher Gewalt aufweise. Die Behörden und Gerichte hätten ihre Entscheidungen unabhängig von der Gewalt und dem Verhalten des Vaters gegenüber der Beschwerdeführerin und dem Kind getroffen. Der Ausschuss sieht hierin ein unzureichendes Verständnis des Gleichberechtigungsbegriffs der Frauenrechtskonvention, der auf die Herstellung tatsächlicher, nicht nur  formaler Gleichberechtigung abzielt.

Die Entscheidung des Ausschusses ist auch für die deutsche Diskussion über das Verhältnis von Gewaltschutz und Umgangsrecht relevant. Sie betrifft die Fälle, in denen sich die unmittelbare Gewalt gegen die Mutter richtet und der Partner bei Umgangskontakten versucht, die ehemalige Partnerin über das Kind weiterhin zu kontrollieren. Auch in diesen Fällen ist regelmäßig die Gewalt in der Entscheidung über Sorge- und Umgangsrechtsregelungen zu berücksichtigen.“2

In Familien, in denen Gewalt geschieht, erleiden Kinder Schaden. Es braucht bessere Lösungen dafür, Kinder zu schützen und aus den Familien herauszunehmen.  Es braucht bessere Lösungen für Unterbringungen mit sicheren und stabilen Bindungspersonen, außerhalb der Ursprungsfamilie. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und sollte nicht nur verwaltungsmäßig reguliert, sondern fachlichen und menschenrechtlichen Kriterien entsprechen. Das bedeutet auch, die Personalsituation der beteiligten Institutionen entscheidend zu verbessern.

Ebenso ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sensibel zu werden für die unterschiedlichen Formen von (Duldung von) Gewalt in sozialen Systemen, ob es dabei um Ehe und Partner_innenschaft, Familien, Schulen, Heimen oder Behörden geht. Es gibt kein per Definition sicheres System, sondern es braucht aufmerksame Menschen, die sich für ein menschenwürdiges Zusammenleben einsetzen.

Und es braucht eine kritische Reflexion über romantische Liebes-, Familien- und Geschlechtsrollen- Bilder und Offenheit für alternative Lebensentwürfe.

Mai 2016  
Marita Blauth
TuBF Frauenberatung Bonn
info@tubf.de


1 Brisch KH (2008) Bindung und Umgang. In: Deutscher Familiengerichtstag (Hrsg.) „Siebzehnter Deutscher Familiengerichtstag vom 12. bis 15. September 2007 in Brühl“. (Brühler Schriften zum Familienrecht, Band 15). Verlag Gieseking Bielefeld, S. 89-135.

2 https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/internationale-gleichstellungspolitk/vn-frauenrechtskonvention-cedaw-staatenberichtsverfahren-und-dokumente-80794