antikapitalistischer Schirm

Care statt Crash

2013

Menschen sind verletzbar und jede*r von uns ist auf andere Menschen angewiesen, auf materielle, intellektuelle oder emotionale Weise. Der 1. März als Equal Care Day will dies in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen und ökonomischen Diskussion rücken. Das Buch „Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus“ ist erfrischende und erhellende feministische und ökonomische Aufklärung.
Eine Rezension.

Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus.

Hans Baumann, Iris Bischel, Michael Gemperle, Ulrike Knobloch, Beat Ringger, Holger Schatz (Hrsg.): Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus. Denknetz Jahrbuch 2013. 216 Seiten, Broschur, Fr. 25.–, € 19.– ISBN 978-3-85990-220-6. Zürich, Edition 8

Wie wohltuend, dass sich die Hausarbeitsdebatte der 70 Jahre nun weiterentwickelt und als eine Realität in der ökonomischen Analyse angekommen ist.

Es geht nicht mehr nur um den Teilbereich der Honorierung von klassischer Hausarbeit, sondern um die Einbeziehung von den Tätigkeiten, die das Zusammenleben, die Reproduktion und Regeneration ausmachen, also zur Wertschöpfung einer Gesellschaft in größerem Umfang beitragen als jede Lohnarbeit

Auch wenn „junge Ökonomie-Studierende davon in der Regel nichts hören“ (S.11) ist die Diskussion zumindest im kritisch – linken (oder wie nenne ich die Szene heutzutage…?) Spektrum angekommen, was schon vielversprechend ist, denn den alten Marxisten waren diese Fragen zu lästig, um sie in eine ökonomische Theorie oder Praxis einzubinden.

Nun gut, manches dauert eben seine Zeit.

Sorgearbeit meint in einer umfassenden Betrachtungsweise die Betreuung, Assistenz, Pflege, Begleitung und alle damit verbundenen Tätigkeiten für Menschen, die (immer mal wieder, über längere Zeit oder konstant) darauf angewiesen sind: also für alle Menschen, die nicht unverletzlich sind. Nicht nur Kinder, alte, kranke oder behinderte Menschen, sondern jeder von uns ist auf andere Menschen im Zusammenleben angewiesen auf materielle, intellektuelle oder emotionale Weise.

Das Buch hat viele Herausgeber und noch mehr AutorInnen, so dass sich die Inhalte in einigen Artikel wiederholen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Kennzeichen von

Sorgearbeit (S. 13):

  • Personenbezogenheit: Integraler Bestandteil der Leistung und deren Qualität ist die zwischenmenschliche Beziehung.
  • Abhängigkeit: Zu Beginn und oft auch am Ende des Lebens sowie bei schwerer Krankheit ist die Abhängigkeit von anderen Menschen existentiell. Das bedeutet, dass Sorgende sich dieser Sorgebeziehung nicht entziehen können, ohne Schaden anzurichten.
  • Angewiesenheit: Menschen sind in ihrem gesamten Lebenslauf auf Sorgeleistungen anderer Menschen angewiesen. Diese oft unbewusst oder nebenbei selbstverständlich geleistete Sorgearbeit trägt wesentlich zum individuellen Wohlbefinden und zum gesellschaftlichen Wohlstand trägt bei.
  • Asymmetrie: Vor allem Sorgebeziehungen zu Kleinkindern und Schwerkranken sind asymmetrisch, denn Handlungsfähigkeit und Wahlfreiheit sind nicht gleich verteilt. Auch im Bezug auf materielle Ressourcen, Verantwortlichkeiten oder Machtverhältnisse sind viele Sorgesituationen asymmetrisch.
  • Zeitbedarf: Gute Sorge- und Beziehungsarbeit braucht Zeit und kann nicht beliebig verkürzt oder verschnellert werden, sie braucht gleichbleibende Qualität und ist nicht vollständig planbar.

Sorgeökonomie als Wirtschaftstheorie des Sorgens soll das alltäglichen Handeln der Männer und Frauen in den Blick nehmen. Als Grundbedürfnis und Menschenrecht gilt das Recht, Sorgeleistungen zu erhalten, sowie das Recht, Sorgearbeit leisten zu können.

 Aus der Schweiz wird berichtet, wie Betreuerinnen (z.B. aus Osteuropa) in Privathaushalten begonnen haben, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Ihr Arbeitsalltag von 24 Std. Betreuung und schlechter Bezahlung grenzt an Leibeigenschaft. Der Staat „kann nicht einerseits des Grundsatz ‚ambulant vor stationär’ propagieren und sich andererseits nicht um die Situation der Beschäftigten in Privathaushalten kümmern.“ Eine Ärztin aus Griechenland, die in einem staatlichen Krankenhaus arbeitet, berichtet von den katastrophalen Folgen der Politik von EU, IWF und Weltbank für das Gesundheitssystem in Griechenland.

In einigen Aufsätzen werden auf kluge und verständliche Weise die ökonomischen Zusammenhänge von personenbezogenen Dienstleistungen analysiert. Es wird deutlich, dass diese Dienstleistungen als Warenform ohne staatliche Regulierung nur zu hohen Preisen geleistet werden können: „Weil der Betreuung eine Zeitdimension inhärent ist, kann eine auf Effizienzsteigerung basierende Rationalisierung und damit die Gewinnung eines relativen Mehrwertes nicht uneingeschränkt gelingen, ohne dass sich der Charakter der Betreuung und ab einem gewissen Punkt ihre Qualität verändert.“ Die Sorge und Erziehung der Kinder beispielsweise in ein Wertverhältnis zu setzen, würde die Reproduktionskosten im Vergleich zum Lohnniveau so sehr in die Höhe treiben, dass sich die Betreuung von Kindern niemand mehr leisten kann. Es braucht also andere Modelle…. Schon Rosa Luxemburg hat Kritik daran geübt, dass die menschenbezogene Dienstleistung nicht in die Theorien des Kapitals passen. Schon zu Marx’ Zeiten waren Haushalte, was den Aufwand an Arbeit anbelangt, die wichtigsten “Produktionsorte” der Sorge- und Versorgungsökonomie. Allerdings hatte der außerhäusliche Dienstleistungsbereich noch nicht die Dimension wie heute, weshalb eine weiterentwickelte Wirtschaftsökonomie heute mehr Raum bekommen kann.

Wenn Mascha Madörin, eine Schweizer Ökonomin feststellt, dass man zwar immer schneller Autos produzieren kann, aber nicht schneller pflegen oder Kinder aufziehen, klingt das banal, hat aber weitreichende Konsequenzen für ein Wirtschaftssystem, das seine schwankende Stabilität über permanente Wertsteigerung zu erhalten sucht.

Wer sich also tatsächlich den Sphären der Kapitalakkumulation, Gebrauchs- und Tauschwert auf erhellende Weise annähern möchte, sei dieses Buch empfohlen.

Ganz besonders interessant fand ich das Interview mit Mascha Madörin und Tove Soiland zu diesen Fragen. Sie beziehen sich wie andere Artikel u.a. auf die Analysen der „Bielefelderinnen“ 1, die sich schon in den 80er Jahren kritisch mit der theoretischen Leerstelle und praktischen Bedeutung der Ökonomie auseinandergesetzt haben, der „Subsistenzproduktion“: Eine Selbst- und Gemeinschaftsversorgung als Überlebensökonomie, die, obwohl gerne antikapitalistisch idealisiert, laufend den Kapitalinteressen subsumiert werden.

Wenn eine Dienstleistungsindustrie in Form von privatisierten Anbietern an Care-Arbeit verdienen will, geht das nur durch die Übernahme von Industrienormen: Standardisierung und kleinschrittige Zerlegung der Arbeit, Lohndumping und unqualifiziertes Personal. „Sie ergänzen und ersetzen diplomiertes Personal, deren Aufgaben sich mehr und mehr zu Organisation, Delegation und Kontrolle verschieben… Das ist frustrierend und treibt Care-Arbeiterinnen in ethische Dissonanz. Kein Mensch erträgt auf Dauer solche Situationen, ohne krank zu werden oder Methoden zu entwickeln, um sich dem Druck zu entziehen oder ihn eben weiterzugeben… Wenn jede MitarbeiterIn in einem ehemals kooperativen Team nur noch für den eigenen Teilbereich zuständig ist, ist sie/er nicht mehr zuständig, wenn die anderen ihren Teil der Arbeit nicht erfüllen und so eine PatientIn buchstäblich in ihrer/seiner Scheisse liegen bleibt. Der auf Unterstützung angewiesene Mensch verschwindet durch das mentale sich Abwenden des Personals.“ (S. 113)

Welche diese Realitäten ökonomisch begreifen möchte und Lust auf Ideen und Gedanken zu einer Care-Ökonomie, oder sogar Care-Revolution hat, der sei das Buch wärmstens empfohlen. Es ist auch ökonomische Alphabetisierung.

Marita Bauth


1 Claudia von Werlhof, Maria Mies, Veronika Bennhold-Thomsen