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03.12.2024: Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung

2024

Die Vereinten Nationen haben 1993 den 3. Dezember zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung als Gedenk- und Aktionstag ausgerufen. Mit diesem Aufruf soll weltweit der Fokus auf Inklusion und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gelegt werden. Immer noch sind Menschen mit Behinderung in Deutschland mit vielen Herausforderungen konfrontiert.

Strukturen, Haltungen und fehlende Maßnahmen durch die Politik behindern eine gleichberechtigte Teilhabe.
Die TuBF Frauenberatung möchte diesen Aktionstag zum Anlass nehmen und ein Bewusstsein für die Belange, Bedürfnisse und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung schaffen, insbesondere für die Situation von Frauen mit Behinderung. In diesem Beitrag kommen Personen zu Wort, die sich täglich direkt oder indirekt mit den Hindernissen und Barrieren in Deutschland auseinandersetzen müssen. Hier äußern sie ihre Wünsche an die Politik und ihre Mitmenschen. Der Blick wird auf bestehende Benachteiligungen und Barrieren gerichtet. Wir hoffen Leser*innen dazu anzuregen, bestehende Strukturen und Haltungen zu hinterfragen, die eine vollständige gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung erschweren. Aus den Kommentaren der Personen, die in diesem Beitrag mitgewirkt haben, werden vor allem die Barrieren des Alltags sichtbar, aber auch Ideen und Vorschläge zur Verbesserung deutlich.

Neben vielen positiven Entwicklungen in der Barrierefreiheit, gibt es allerdings immer noch erhebliche Mängel. Das betrifft zum Beispiel Gebäude, öffentliche Verkehrsmittel und Räume. Sie sind nach wie vor nicht für alle Menschen zugänglich. Betrachtet man den digitalen Bereich, so beklagen Menschen mit Behinderung, dass es an inklusiven Angeboten fehle, obwohl barrierefreie Webseiten und Apps schon lange technisch möglich wären. Diese physischen und digitalen Hindernisse begrenzen die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung in erheblichem Maße.

Frauen* und Mädchen* mit Behinderung sind besonderen Herausforderungen ausgesetzt, weil sie sowohl aufgrund ihres Geschlechts als auch aufgrund ihrer Behinderung Diskriminierung erfahren.
Der Zugang zu Bildung und Arbeit ist für diese Personengruppe besonders schwierig, sodass sie letztlich häufiger von Armut betroffen sind. Auch in der Gesundheitsversorgung, insbesondere der gynäkologischen Versorgung, bestehen unzureichende medizinische Angebote. Es mangelt nicht nur an barrierearmen Praxen bzw. Einrichtungen, sondern auch an medizinischem Personal, das eine angemessene Sensibilität mitbringt.

Frauen* mit Behinderung sind zudem einem erhöhten Risiko von Gewalt (körperlich, psychisch oder sexuell) ausgesetzt. In Art. 6 der Istanbul Konvention wird ausdrücklich Bezug auf Frauen mit Behinderung genommen. Hierin werden die Vertragsstaaten wie Deutschland dazu aufgefordert, den Schutz vor Gewalt von Frauen mit Behinderung sicherzustellen. Doch viele Frauen* mit Behinderung können ihr Recht auf Gewaltschutz und Unterstützung nicht wahrnehmen, da es in Deutschland in vielerlei Hinsicht Barrieren zu den Hilfsangeboten gibt und ebenso wie zum Justizsystem. D. h. der Schutz vor Gewalt ist für Frauen mit Behinderung in Deutschland nach wie vor nicht oder nicht ausreichend gewährleistet.

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist für uns nicht nur ein Grund die Aufmerksamkeit auf bestehende Barrieren zu lenken, sondern auch Ideen und Lösungen voranzubringen. Es bedarf auf politischer, als auch auf gesellschaftlicher Ebene eines Bewusstseinswandels, um die Ungleichheit von Menschen mit Behinderung, insbesondere von Frauen* mit Behinderung, zu bekämpfen. Ziel ist es in einer inklusiven Gesellschaft zu leben, in der Menschen mit Behinderung gleichwertig eingebunden und respektiert werden.

Wir sind auf dem Weg dahin, aber wir haben das Ziel noch lange nicht erreicht!

Was stört dich (im Alltag) am meisten?
Welche Barrieren oder Hindernisse nerven dich besonders?

„Öffentliche Verkehrsmittel werden immer weniger von Menschen mit Behinderung nutzbar.
Oft kommt man als Rollstuhlfahrer an Eingängen nicht weiter, weil es keine Rampen gibt oder Aufzüge nicht funktionieren, Bahnen fallen ständig aus, Schienenersatzverkehr ist nicht geeignet, weit und breit kein rollstuhlgerechtes WC vorhanden.
Das ist frustrierend, weil mir jegliche Spontanität genommen wird, ich im Vorfeld meine Unternehmungen und Termine sorgfältig planen und die Gebäude auf Barrierefreiheit prüfen muss. Es schränkt mich unnötig ein und gibt mir das Gefühl, ausgeschlossen zu werden.“

A.H.

„Wenn Menschen mich nicht als vollwertige Person ernst nehmen und ich mich immer wieder erklären muss. Mir als Frau mit Behinderung eilt ohne mein Zutun ein Ruf voraus: nämlich der, dass ich bedürftig bin und immer dankbar sein muss für die Hilfe, die ich bekomme. Mich stört aber ebenfalls, wenn man mich auf ein Podest stellt – die Behinderte als Aushängeschild!“
Z.A.

„Der durch Unwissenheit unbeholfene Umgang.
Der durch Vorurteile oder Falschwissen behaftete Umgang mit Menschen mit Behinderung (meist resultierend aus Ersterem).
Beispiele:
Mensch mit Behinderung (in Folge abgekürzt durch MmB) plus Assistenz/Begleitung stellt eine Frage, zum Beispiel am Auskunftsschalter der Bahn o. ä.: Der Begleitung wird geantwortet.
Warum kann sich ein MmB zum Beispiel nicht auch zu jeder Zeit in jeder Stadt ganz unvorbereitet ein barrierefreies Taxi rufen?
Dieser Augenblick birgt zum Beispiel die Chance auf den MmB zuzugehen und den Moment zur Integration zu nutzen (offenes Gespräch, anstatt das Kind an der Hand dort wegzuzerren oder „guck da nicht hin“ zu sagen).
MmB nimmt am öffentlichen (Berufs)leben teil, geht in die Disco, spielt im Theater, etc.: Die Öffentlichkeit ist verwundert, irritiert oder bewundernd (letzteres kann auch eine Form der Diskriminierung sein).
Das Gefühl von Selbstverständlichkeit/Augenhöhe fehlt immer noch an vielen Stellen.“

V.P.

„Mich stört, dass es in Bahnhöfen keine Informations-Tafeln mit Gebärden-Sprache gibt.“
T.K.

„Arbeits-Platz-Kommunikation ist oft problematisch. Wenn es keine Gebärden-Sprache, und keine Dolmetschung gibt, haben wir oft keine Chance auf Teilhabe.“
T.V., C.C., S.M.

„Bürokratie ist schwierig. Schriftsprach-Kenntnisse sind für Gehörlose schwierig zu bekommen.
Durchsagen im Zug sind nur Ton. Ausstiege, warum? Für Gehörlose gibt es dann keine Informationen.
Ich habe letztens meinen Bruder zu einem Arzt-Termin begleitet. Dem Aufklärungs-Bedarf meines Bruders wurde nicht entsprochen, Fragen nicht beantwortet. Ich habe so oft das Gefühl, abgewimmelt zu werden.“

S.M.

„Klingel-Systeme sind auf Laut-Signale angelegt. Z.B. der Zugang zur Intensiv-Station braucht eine Türsprech-Anlage. Es gibt keine visuellen Signale.“
M.K.

„Folgende Barrieren stellen für mich als Mensch mit Behinderung immer wieder eine sehr große Herausforderung dar:
Treppen
nicht abgesenkte Bordsteine
unvorteilhafte Kabelverlegungen
Kopfsteinpflaster
zu schmale Türen
fehlende oder defekte Fahrstühle“

T.H.

„Ich bin neurodivergent und lebe zusätzlich mit einigen der seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, die damit einhergehen können. Da meine Behinderung für andere in der Regel ‚unsichtbar‘ ist, bleiben auch die damit einhergehenden Barrieren oft unsichtbare. Ich plane, kompensiere, scheitere im Verborgenen.“
L.T.

Was würdest du dir stattdessen wünschen?

„Ich wünsche mir, dass viel mehr Gebäude und alle Verkehrsmittel vollständig barrierefrei sind, dass es keine Hindernisse mehr gibt, die mich davon abhalten, mich frei zu bewegen. Alle Menschen müssten ein Bewusstsein dafür entwickeln, Barrieren selbstverständlich abzubauen, ohne gesetzliche Auflagen. In diesem Zusammenhang müsste viel mehr improvisiert werden, um Menschen mit Behinderung eine ganz normale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.“
A.H.

„Einen normalen Umgang miteinander, vielleicht kommt man dann zu einer gewissen Selbstverständlichkeit. Grundsätzlich möchte ich das nicht als Wunsch, sondern als gesellschaftliche Forderung formulieren. Eine Behinderung kann jeden Menschen treffen, deshalb fordere ich eine breitangelegte Informationskampagne zu den Themen Behinderungserwerb, Umgang mit Behinderung, aktueller politischer Diskurs an öffentlichen Institutionen wie Schulen, Universitäten, Unternehmen – und zwar explizit nicht nur fachspezifisch! Menschen, die aus privaten oder beruflichen Gründen ohnehin im Kontakt mit dem Thema körperliche und geistige Behinderung sind, sind schließlich bereits informiert. Es geht mir v.a. um eine flächendeckende Wahrnehmung.“
Z.A.

„Noch mehr Integration, bereits im (augenscheinlich banalen) alltäglichen Alltag: Schaufensterpuppen im Rollstuhl überall, von Karstadt bis zum Erotik-shop, mehr bzw. überhaupt einmal die Sichtbarkeit in der TV-Werbung (vollkommen egal ob für Zahnpasta,
Versicherungen, Karriere oder Unterwäsche), als TagesschausprecherIn usw. usf., um nur einige Beispiele zu nennen.
Dass alle öffentlich zugänglichen Gebäude/Verkehrsmittel über einen barrierefreien Zugang verfügen.
Den zunehmenden Abbau von Wohnheimen, hin zu eigenständigem, nach Möglichkeiten selbstbestimmten Leben im eigenen Wohnraum.

V.P.

„Mehr Untertitel.“
M.K.

„Arbeits-Plätze mit viel Lektüre sind nicht zugänglich. Praxis-Arbeit mit Händen ist für viele von uns aber gut möglich. Wir wünschen uns Chancen für praktische Arbeit! Mehr Gelegenheiten für Praktika und Schnupper-Kurse wären gut.“
S.M.

„Folgendes würde ich mir wünschen:
Inklusion vorantreiben
Abbau von Barrieren
mehr Verständnis, Akzeptanz und Rücksichtnahme von Menschen ohne Behinderung“

T.H.

„Ich würde mir wünschen, dass wir Vielfalt jeder Form normalisieren, so auch Neurodiversität, verschiedene Formen von Behinderung und weitere Identitätsmarker. Das bedeutet für mich, dass wir jede Person als wertvoll, wichtig und richtig anerkennen und ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihr Selbstbestimmungsrecht achten. Und dass wir es als gemeinsame und lohnenswerte Aufgabe sehen, Räume so zugänglich wie möglich für alle zu gestalten – anstatt den Umgang mit Barrieren den betroffenen Personen allein zu überlassen.“
L.T.

Wenn du könntest, was würdest du verändern, z.B. in Politik, Gesellschaft/Mitmenschen, Bildung oder Ähnlichem?

„Die Politik muss dafür sorgen, dass barrierefreie Infrastruktur nicht nur als Option, sondern als gesetzliche Pflicht in allen Bereichen durchgesetzt wird.
Man müsste in der Politik und im Bildungssystem mehr für eine gleichwertige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen tun, so in allen Lebensbereichen (z. B. Arbeit, Schule, Freizeit) die Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben gewähren, die sie brauchen.
In der Gesellschaft wünsche ich mir allgemein mehr Sensibilisierung und Akzeptanz, damit niemand aufgrund seiner Behinderung diskriminiert wird. Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, Barrieren zu überwinden – sei es physisch, sozial oder in unseren Denkmustern – schaffen wir eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Chancen hat.“

A.H.

„Im politischen Feld sollten Menschen mit Behinderung mehr Sichtbarkeit und Mitsprachemöglichkeiten erlangen. In jedem Bereich gibt es Expert:innen – Menschen mit Behinderung haben ihre spezielle Expertise, die gesamtgesellschaftlich relevant ist.
V.a. braucht es eine größere Lobby für Menschen mit Beeinträchtigung – je größer die Lobby, desto mehr Mitspracherecht.“

Z.A.

„Viele von uns möchten an das alte berufliche Leben anknüpfen. Unsere Erfahrungen werden oft nicht anerkannt.“
S.M.

„Das Gehörlosen-Geld soll erhöht werden! 77 €, die es in NRW monatlich gibt, sind wenig – und die Leistung sollte bundesweit gleich sein.“
T.K.

„Leistungen für andere behinderte Menschen zu erhöhen finde ich auch richtig.“
S.M.

„Aus meiner Sicht könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, dass man die Politik und Gesellschaft weiter für Behinderungen sensibilisiert. Menschen mit Behinderungen sollten stärkenorientierter gefördert werden, damit ihre Chancen erhöht werden können!“
T.H.

„Im Zuge meiner Arbeit versuche ich diese Veränderung lokal mitanzubahnen: Ich bin (…) als Teilhabe- und Peerberaterin tätig. Dort berate und unterstütze ich neurodivergente, behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen und ihre Angehörigen. Ich versuche, einen barrierearmen Raum zu schaffen, in dem sich die ratsuchende Person verstanden und in ihren Rechten bestärkt fühlt. Das erfahrungsbasierte Wissen, das ich aufgrund meiner eigenen Behinderung einbringen kann, erachte ich hierfür als wertvolle Ressource.“
L.T.

Die TuBF Frauen*beratungsstelle dankt allen Beteiligten für die wertvollen Beiträge!

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